Himmel uber Langani
Gefängnisstrafe eingebracht. Die Heimlichtuerei hatte ihr Familienleben vergiftet und zur Folge gehabt, dass Marina immer mehr von Einsamkeit und Trauer zerfressen wurde.
Beim Anblick der peinlichen Szene im Schlafzimmer hatte Camilla kehrtgemacht und fluchtartig das Haus verlassen. Als sie die Tür hinter sich zuknallte, hatten sich seine verzweifelten Rufe wie Geschosse in ihr Gehirn gebohrt und jegliches Vertrauen zerstört, das sie seit frühester Kindheit zu ihm gehabt hatte. Sie hielt ein Taxi an, doch als sie im Wagen saß, hatte sie keine Ahnung, wohin sie fahren wollte, und brach in Tränen aus.
»Aber, aber, ein hübsches Mädchen wie Sie sollte sich nicht das Herz brechen lassen. Ich wette, ein Mann hat Ihnen den Laufpass gegeben. Tja, er ist die Tränen nicht wert. Das sind sie alle nicht, Kind. Sie werden sehen, dass ich Recht habe.« Mitfühlend betrachtete der Taxifahrer sie im Rückspiegel. »Wohin möchten Sie, Miss? Wünschen Sie eine Stadtrundfahrt, oder haben Sie ein bestimmtes Ziel?«
Camilla kramte ein Taschentuch hervor, und da sie völlig ratlos war, nannte sie zu guter Letzt ihre eigene Adresse. Es gab ja niemanden, an den sie sich wenden, keinen Menschen, bei dem sie sich anlehnen konnte. In London hatte sie nie enge Freunde gebraucht und sich deshalb auch nicht darum bemüht, welche zu finden. Den Leuten, mit denen sie zusammenarbeitete, zum Essen ausging und tanzte, hatte sie sich stets überlegen gefühlt. Es machte ihr Spaß, abweisend und geheimnisvoll zu wirken und sich nicht mit den Problemen anderer zu befassen. Denn so hatte niemand Einfluss auf ihre Empfindungen, Hoffnungen oder Gedanken.
»Ich habe nicht die geringste Ahnung, was gerade in dir vorgeht«, meinte Tom oft zu ihr. »Du sagst vernünftige Dinge, und ich höre dir zu, aber ich weiß nicht, was in deinem hübschen Köpfchen passiert oder was du empfindest. Fühlst du eigentlich überhaupt etwas? Eines Tages wirst du schon noch dahinter kommen, dass du ein Mensch bist wie wir anderen auch. Wenn du weiter niemanden an dich heranlässt, wirst du verwelken wie eine Pflanze ohne Wasser.«
»Tja, du kannst dir die Mühe sparen, mich zu gießen«, hatte Camilla herablassend erwidert und ihn zur Seite geschoben, als er versuchte, sie zu küssen. Als er sich abwandte und etwas wie »Hochmut kommt vor dem Fall« murmelte, hatte sie ihn ausgelacht.
Und nun gab es niemanden, dem sie sich anvertrauen konnte. Als Camilla die Tür ihrer Wohnung öffnete, hörte sie das Telefon läuten. Voller Angst, es könnte ihr Vater sein, blieb sie auf der Schwelle stehen, machte auf dem Absatz kehrt und ging zurück zur Brompton Road. Inzwischen regnete es wieder, und sie spannte ihren Schirm auf, damit ihre Ponyfransen nicht nass wurden und ihre Narbe entblößten. Doch sie wusste noch immer nicht, wo sie hingehen sollte. Es war zu früh für einen Besuch in einem Lokal oder einem Nachtclub. Der abendliche Berufsverkehr brauste an ihr vorbei, und sie fühlte sich inmitten des Gewühls benommen und bedroht. Am liebsten hätte sie sich vor dem Motorenlärm, dem Quietschen der Bremsen und dem Gellen der Hupen in den friedlichen afrikanischen Busch geflüchtet. Ohne die neugierigen Blicke der anderen Passanten zu bemerken, blieb sie unschlüssig mitten auf dem Gehweg stehen. Da stoppte plötzlich ein Auto neben ihr.
»Sie sehen aus, als hätten Sie sich verlaufen oder wüssten nicht wohin.« Edward Carradine kurbelte das Fenster hinunter und musterte sie fragend. »Es regnet in Strömen. Kann ich Sie irgendwohin mitnehmen?«
»Ja, können Sie.«
Trotz des Wolkenbruchs stieg er aus, um ihr die Tür aufzuhalten. Sie nahm auf den Beifahrersitz Platz.
»Wohin möchten Sie?«
»Irgendwohin. Es ist, wie Sie gerade sagten.« Camilla bereute, dass sie sein Angebot angenommen hatte. Nun saß sie in seinem Auto und hatte keine Ahnung, wo er sie hinbringen sollte. »Wohin fahren Sie denn?«
»Ich wollte eigentlich ins Kino.« Als er sie aus dem Augenwinkel musterte, bemerkte er, wie verstört sie war. Ihre Mundwinkel zuckten, und ihre Augen waren gerötet. »Vielleicht hätten Sie ja Lust mitzukommen, falls Sie nichts anderes vorhaben.«
»Ist es nicht verboten, mit Patientinnen auszugehen, Mr. Carradine?« Ein leichtes Lächeln spielte um ihre Lippen.
»Nicht, wenn es sich um ganz normale Bekanntschaften handelt. Ansonsten müsste ich den Großteil meines Privatlebens allein verbringen. Übrigens heiße ich Edward.« Er betrachtete sie genauer.
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