Himmel uber Langani
gemeint, und Camilla war überrascht, welche Mühe er sich mit ihr gab. Für gewöhnlich neigte er dazu, die Probleme des Alltags einfach abzutun, und konnte es gar nicht leiden, wenn die Models ihre privaten Schwierigkeiten mit zur Arbeit brachten. Allerdings war er Marina einige Male begegnet und offenbar ehrlich bestürzt, dass über diese reizende Person ein Todesurteil ohne Aussicht auf Begnadigung verhängt worden war. Camilla war ihm dankbar und wusste, dass sie ihm wirklich Leid tat. Allerdings konnte sie nicht verlangen, dass die Welt wegen ihrer misslichen Lage stillstand. Die Tage verstrichen unwiederbringlich, und es gab keine ausgleichende Gerechtigkeit. Marina starb, sie besaß keine Zukunft mehr, und nicht einmal sie, die sich so meisterlich auf die Kunst der Selbsttäuschung verstand, konnte dieser grausamen Tatsache entfliehen oder den schrecklichen Verfall ihres Körpers leugnen.
Camilla stand auf und zog die Vorhänge zu, um nicht mit ansehen zu müssen, wie der Regen gegen die Fensterscheiben prasselte. Sie hatte weder Lust, zu Bett zu gehen, noch wollte sie in dem totenstillen Wohnzimmer sitzen bleiben. Also lief sie unruhig auf und ab, versuchte, Selbstmitleid und Angst zu verscheuchen, und bemühte sich, an etwas anderes zu denken, um wieder zur Ruhe zu kommen. Als das Telefon läutete, hob sie automatisch ab – und hörte die Stimme ihres Vaters.
»Marina? Wie geht es dir, meine Liebe?« Georges Stimme klang zärtlich. »Tut mir Leid, dass ich so spät noch anrufe, aber ich war den ganzen Abend bei einem mörderisch langweiligen Bankett und habe jetzt erst Zeit …«
»Sie schläft schon. Du kannst morgen wieder anrufen. Aber nicht zu früh.«
Nachdem sie mit zitternden Händen aufgelegt hatte, sah sie nach Marina, deren ruhiger Schlaf nur den Tabletten zu verdanken war. Die Pflegerin, die in einem Lehnsessel saß, blickte lächelnd von ihrem Buch auf.
»Ich gehe noch kurz weg«, sagte Camilla. »Aber ich komme später wieder. Ich übernachte heute hier.«
Sie trat in den strömenden Regen hinaus und winkte, als ein Taxi vorbeifuhr. Sie war zu einer Party in Chelsea eingeladen. Nachdem sie den Taxifahrer bezahlt hatte, trat sie in das Haus der Gastgeber. Oben dröhnte die Musik, es wurde laut gelacht, und auf der Treppe saßen Leute, die Haschisch rauchten oder Gläser mit Champagner, Wein und Wodka in der Hand hielten. Auf dem Treppenabsatz im ersten Stock musste sie über ein Pärchen hinweigsteigen, das sich halb nackt und eng umschlungen auf dem Boden wälzte. Kurz darauf stand sie mitten im Getümmel, leerte ihr erstes Glas und ließ es nachfüllen. Einige Paare tanzten raumgreifend und mit wilden Bewegungen. Andere pressten sich eng aneinander und schienen sich entlang einer nur für sie sichtbaren Linie zu bewegen. Im nächsten Moment wurde Camilla am Arm gepackt und stellte fest, dass sie mit Tom Bartlett tanzte. Sie stürzte sich ins Getümmel, wirbelte herum und beugte die Knie, bis sich ihr Körper nur wenige Zentimeter über dem Boden befand. Weit zurückgelehnt, schob sie das Becken vor und zurück und wand sich, die Arme ausgebreitet wie Flügel, in schlangenförmigen Bewegungen. Die Anwesenden riefen ihren Namen und johlten begeistert, während sie sich Mühe gab, das Gleichgewicht zu bewahren. Schließlich richtete sie sich langsam und anmutig wieder auf. Als sie nach ihrem Glas griff und einen langen Zug von einem angebotenen Joint nahm, applaudierten alle.
»Du bist ja gut in Form, und zwar in jeglicher Hinsicht.« Tom zog sie an den Rand des Raums und musterte sie, einen eigenartigen Ausdruck auf dem Gesicht. »Wie ist es heute Nachmittag gelaufen?«
»Es war eine ziemlich Quälerei. Scheußliche Klamotten und eine grässliche alte Hexe, die aus allem ein Problem gemacht hat. Ich glaube, ich habe mich fünfzig Mal umziehen müssen.«
»Ich habe etwas Interessanteres für dich, und zwar eine Werbekampagne für eine neue Schmuckkollektion im Ethno-Stil. Die Aufnahmen finden in Marokko statt. Und außerdem will eine große Zeitschrift dich interviewen. Komm morgen früh zu mir ins Büro.« Mit diesen Worten verschwand er und ließ sie allein inmitten von Lärm und Gedränge stehen.
Camilla blickte sich um und entdeckte ein paar bekannte Gesichter. Sie täuschte überschwängliche Begeisterung vor, als sie einige Leute begrüßte, die ihr in Wahrheit unsympathisch waren. Allmählich begann das Haschisch zu wirken. Camilla wurde von einer angenehmen Ruhe ergriffen, als
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