Himmel uber Langani
erzählen. Endlich hatte sie Gelegenheit gehabt, sich ihre Sorgen und aufgestauten Gefühle von der Seele zu reden. Anschließend hatte er darauf bestanden, dass sie sich ein paar Stunden lang ausruhte, bevor sie zum Abendessen in sein Restaurant kam.
»Schau mich nur an. Meine Augen sind verschwollen, meine Nase ist rot, und meine Sachen sind ganz zerknittert«, protestierte Lottie. »Ich kann heute Abend nicht ausgehen.«
Aber Elena hatte sie überredet, sich zurechtzumachen, ihr Eiswürfel auf die Augen gelegt und ihr beim Schminken und Frisieren geholfen. Außerdem hatte sie das Hausmädchen damit beauftragt, Lotties Kleider zu bügeln. Und zu guter Letzt drückte sie ihrer Schwägerin einen Drink in die Hand.
»Du siehst wunderbar aus«, sagte sie. »Der heutige Abend wird dir Spaß machen. Ein paar Freunde kommen auch, doch wir sind nur zu acht.«
Bis auf einen kannte Lottie alle Gäste. Elena hatte sie neben einen hoch gewachsenen Mann mit faltigem Gesicht und dunklen Augen gesetzt. Er wirkte auf sie grüblerisch und ernst und war so zurückhaltend, dass sie sich insgeheim einen fröhlicheren Menschen als Tischherrn wünschte. Wie sie herausfand, hieß er Mario. Und als er unerwartet lächelte, fühlte sie sich an den Sonnenaufgang über der dunklen Bergkette erinnert, die sie aus ihrem Schlafzimmerfenster in Langani sehen konnte. Nachdem sie so lange zurückgezogen gelebt hatte, empfand sie es anfangs als Herausforderung, sich am Tischgespräch zu beteiligen. In den jämmerlichen Bungalow auf Kobus’ Farm kamen niemals Gäste, und sie befürchtete schon, sie könnte die anderen Anwesenden langweilen. Bald jedoch empfand sie die Unterhaltung als anregend. Man verglich die Situation in Kenia und Rhodesien und erörterte die gefährliche Lage, die durch Ian Smiths Politik entstanden war, sowie die südafrikanische Apartheid. Niemand erwähnte die Ermordung ihres Sohnes, und Lottie war froh, kein Mitleid über sich ergehen lassen zu müssen. Sie erzählte von Jans Verpflichtung, an Einsätzen der Bürgerwehr teilzunehmen, und schilderte ihre Ängste um seine Sicherheit. Wieder stiegen Trauer und Wut in ihr auf. Da bemerkte sie, dass Mario sie mit aufrichtiger Anteilnahme musterte.
»Es gibt nichts Schrecklicheres als den Gedanken, dass einem geliebten Menschen etwas zustoßen könnte«, sagte er.
Als sie ihn betrachtete, erkannte sie eine Trauer in ihm, die sie an ihre eigene erinnerte, und sie wusste, dass er sie aus irgendeinem Grund verstand. Nach dem Abendessen versammelten sich alle in Sergios Haus ums Klavier. Lottie hatte einen vollen Mezzosopran und stellte fest, dass Mario nicht nur über ein breites Repertoire von italienischen Liebesliedern und Arien verfügte, sondern auch einen schönen Bariton besaß. Und dann war da noch Mozart. Lottie fühlte sich, als wären sie ganz allein im Raum, als sie mit Mario das Duett zwischen Don Giovanni und Zerlina sang. Danach nahm er ihre Hand und küsste ihre Finger. Sie erschrak über ihre eigenen Gefühle, als seine Lippen ihre Haut streiften.
» Bellissima« , sagte er. »Eine schöne Frau singt wundervolle Musik! Etwas Besseres gibt es nicht.«
Lottie lächelte ihm zu, und sie wurde sich dessen bewusst, dass sie zum ersten Mal seit Jahren um ihrer selbst willen bewundert wurde. Sie war beschwingt von der Musik, dem Gelächter und der Freude daran, die italienische Sprache zu hören. Außerdem hielt Mario noch immer ihre Hand. Als sie sich umsah, stellte sie fest, dass Sergio sie beobachtete, und zog die Hand erschrocken weg. Beim Zubettgehen ertappte sie sich bei dem schockierenden Gedanken, wie es wohl sein mochte, von Mario geküsst zu werden. Im nächsten Moment jedoch schalt sie sich wegen ihrer Albernheit. Sie, eine Frau in mittleren Jahren, träumte von einem gut aussehenden Fremden! Doch wenigstens war es ihr einen Abend lang gelungen, dem Sumpf aus Sorgen, Mühen und Einsamkeit zu entrinnen, der ihr Leben prägte. Wie im Märchen vom Aschenputtel war ihr ein Moment als freier Mensch ohne Verantwortung, traurige Erinnerungen und Ängste vergönnt gewesen. Also war ihre Reaktion nur allzu verständlich. Schließlich war der attraktive, leidenschaftliche Mario das genaue Gegenteil des trübsinnigen Alkoholikers, in den ihr Mann sich verwandelt hatte. Welchen Grund gab es also, sich zu schämen? In einer oder zwei Wochen würde sie zu den öde vor sich hin raschelnden Tabakfeldern und in ihren eintönigen Alltag zurückkehren. Ob Mario wohl
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