Himmel über dem Kilimandscharo
Besuch…«
Klara war die Stiege zum Arbeitsraum des Großvaters hinaufgegangen, um dort ein wenig mit ihm zu plaudern. Es war ein trauriger Anblick, der sich ihr bot: Pastor Henrich Dirksen schien während der letzten Monate kleiner geworden zu sein, auch konnte er nicht mehr aufrecht im Sessel sitzen, sondern musste von vielen Kissen und Polstern gestützt werden. Nur sein Geist war noch gesund, doch auch das war kein Segen, da er seinen jammervollen Zustand begriff und darunter litt.
Charlotte folgte ihrer Cousine, doch heute musste sie sich zwingen, wenigstens ein Weilchen bei ihm zu sitzen, seine verkrümmte Hand zu streicheln und von allerlei Unwichtigem zu reden. Sie kam sich schlecht vor, als sie Klara zum Aufbruch drängte, doch in ihrem Beutel steckte der Brief von George, von dem sie bisher nur die Anrede gelesen hatte. Meine liebe kleine Charlotte …
Es hatte sie seltsam berührt, immerhin war sie längst nicht mehr das kleine Mädchen, das damals unter der Eiche im Gras gesessen hatte. Obgleich sie es ganz gern wieder gewesen wäre…
Klara zog sich in ihr Zimmer zurück, als sie in der Pfefferstraße angekommen waren; sie sei müde von dem langen Weg und müsse noch ein wenig ausruhen. Christian war unten im Laden, er würde heute länger im Geschäft bleiben, denn er wollte morgen wieder für zwei Tage nach Bremen fahren.
Meine liebe, kleine Charlotte,
wie habe ich mich gefreut, dass dir mein Geschenk nun doch gefallen hat, zuerst fürchtete ich, ganz schlimm danebengegriffen zu haben. Amelia Edwards war nicht nur eine mutige Frau, sie war auch eine wundervolle Schriftstellerin, und gerade deshalb hatte ich dieses Werk für dich ausgewählt. Du liest also Reiseberichte? Auch andere Autoren? Schreib mir darüber, ich bin neugierig, dein Urteil zu hören. Schreib mir auch, was du den lieben, langen Tag über tust, ob du noch Klavier spielst, lebendige Bilder vor Augen hast und mit den Wolken davonreisen möchtest …
Zum Ausgleich will ich dir von mir erzählen. Erinnerst du dich an unser Gespräch, als der Träumer dir von den roten Sanddünen und der grandiosen Wüsteneinsamkeit vorschwärmte? Ja, ich habe sie inzwischen am eigenen Leib erfahren, die Wüste, das große Nichts, die unendliche Leere, die Zone des Todes. Mit all ihren Schrecken und in ihrer Großartigkeit habe ich sie erlebt, ich habe gespürt, wie die Hitze meine Augen aus den Höhlen treiben wollte, meine Zunge zu einem Klumpen quoll und mein Hirn zu kochen begann. Aber ich habe auch die silberne Schale des Mondes über den Dünen gesehen und das funkelnde Netz des Sternenhimmels auf dem schwarzen Himmelssamt. Zweimal blickte ich dem Tod in die Augen und spürte dabei das Leben in mir so stark wie nie zuvor.
Was schreibe ich für wirres Zeug, kleine Freundin! Ich wollte dich nicht erschrecken, ich bin nur voll von all dem Erlebten und bilde mir ein, du könntest vielleicht Freude daran haben, meine Ergüsse zu lesen.
Lass mich für heute schließen. Es ist schon Nacht in Kairo, doch überall auf den Dachterrassen sieht man Lichter, die Leute sitzen beieinander, schwatzen und essen, versuchen, ein wenig Abkühlung zu finden nach der lähmenden Hitze des Tages.
George
P.S. Ich warte auf Post!
Das war mehr, als sie in ihren kühnsten Träumen erhofft hatte. Die Jahre schienen wie ausgelöscht, als könne man jetzt, nachdem so vieles geschehen war, den Faden einfach wiederaufnehmen und fortspinnen. Sie las den Brief immer wieder, wog jedes Wort ab, grübelte über jede Wendung nach, versuchte, diesen Menschen zu begreifen, für den Schönheit und Grauen, Leben und Tod so eng ineinander verflochten waren. War er ein Träumer? Ganz sicher. Doch er setzte seine Träume in Taten um. Wo sie nur schöne Bilder vor sich sah, da hatte er das Leben mit allen seinen Sinnen gespürt, auch die Qualen, die Todesangst, den Schrecken. Jetzt begriff sie die Unrast in seinen Augen– er war hungrig nach diesem Leben, forderte es heraus, rang mit ihm, wagte sich bis an seine Grenzen. George Johanssen war einer, der ohne Bedenken nach dem Kelch der Götter griff, um ihn bis zur Neige auszukosten.
Wie sie ihn um diesen Mut beneidete! Sie, die im goldenen Käfig eingesperrt saß, der man die Flügel beschnitten hatte, die ihre Sehnsucht nach Weite nur mit Büchern und Musik betäuben konnte. Nicht einmal die Entschuldigung, dass sie eine Frau war, durfte sie geltend machen. Es hatte eine Amelia Edwards gegeben, eine Alexandrine
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