Himmel ueber fremdem Land
zurechtfinden, die bisher überbehütet aufgewachsen war?
Demy schlug die Hände vors Gesicht. Sie hätte Lina und Margarete niemals hierherbringen dürfen!
Kapitel 22
St. Petersburg, Russland,
Mai 1908
Endlich von den Ketten des Eises befreit, wälzte sich die Neva als gewaltiger, brodelnder Strom durch die Stadt in Richtung des Finnischen Meerbusens. Die Chabenski-Töchter Nina, Jelena und Katja standen mit geröteten Gesichtern an der Reling des Flussdampfers, ihre Pelzmützen tief in die Stirn gezogen und die Hände in wärmenden Muffs, und betrachteten das am Ufersaum vorbeiziehen Winterpalais mit der angrenzenden Eremitage.
»Ich habe gehört, die Anastasia Nikolajewna soll sich immer mehr wie ein kleiner Rebell und Spaßvogel aufführen.« Die siebenjährige Nina, im gleichen Alter wie die jüngste Tochter des Zarenpaares, sah erst ihre beiden Geschwister und schließlich das Kindermädchen an.
Über Ankis Lippen kam ein Seufzen. Selbst dieses Kind verstand es bereits meisterhaft, die in St. Petersburg kursierenden Gerüchte als harmlosen Gesprächsbeginn getarnt aufzugreifen.
»Sie schummelt beim Spielen und ist sehr wild. Kürzlich soll sie auf einen Baum geklettert sein und sich standhaft geweigert haben, wieder herunterzuklettern«, erzählte das Mädchen munter weiter.
Jelena, die selbst ein kleiner Wildfang war, lachte fröhlich auf und blickte noch angestrengter hinüber, in der Hoffnung, Anastasia in einem der Palastfenster zu entdecken.
Anki ließ den Kindern ihren Spaß, obwohl sich die Zarenfamilie seit dem Blutsonntag im Jahr 1905 hauptsächlich in Zarskoje Selo 21 aufhielt.
»Das ist kein Verhalten für eine Großfürstin«, rügte Nina.
»Ich würde gern mal mit ihr spielen. Sie hat bestimmt viele Puppen.« Auch die zweijährige Katja wollte sich an dem Gespräch der Schwestern beteiligen. »Ihre Kleider sind immer so schön. Man kann im Palast bestimmt prima Verstecken und Suchen spielen«, plapperte sie nach, was sie wohl von ihren älteren Schwestern oder von Spielkameradinnen aufgeschnappt hatte.
Anki, die direkt hinter Katja stand, damit sie die jüngste der Schwestern im Auge haben konnte, lächelte über die Köpfe ihrer Schützlinge hinweg. Die vier Romanow-Großfürstinnen wie auch der kleine Thronfolger lebten sicherlich in noch mehr Überfluss als sie, doch im Gegensatz zu ihren Zöglingen gingen sie durch eine harte Schule.
Die Mädchen schwiegen und hingen ihren eigenen Träumen und Gedanken nach. Möwen kreisten über ihren Köpfen und die durchdringenden, schrillen Schreie der Seevögel übertönten selbst den Motorenlärm des Dampfers. Fröstelnd verbarg Anki ihre Hände in den Taschen ihres Mantels und stellte sich breitbeinig auf das Deck, um das Schwanken des Schiffs besser auszugleichen. Dabei warf sie einen prüfenden Blick auf Tilla. Ihre Schwester hatte den Windschatten der Schiffsaufbauten dem zugigen Platz an der Reling vorgezogen. Mit verkniffenen Gesichtszügen starrte sie vor sich hin, und in Anki keimte erneut Sorge auf. Offensichtlich ging es ihrer Schwester nicht gut, aber sie schien nicht bereit, mit ihr über ihren Kummer zu sprechen.
Gemächlich schipperten sie an der Silhouette der Altstadt vorbei, bis nach dem Marmorpalais die Häuser zurückwichen und der Blick auf das Marsfeld und schließlich auf den Sommergarten frei wurde. Mit einem unsanften Ruck legte das Schiff am Pier an, zugleich verstummte das laute, stampfende Motorengeräusch.
Anki bat Nina, vorsichtig über den Anlegesteg an Land zu gehen, während sie Jelena und Katja fest an der Hand nahm. Gemeinsam verließen sie den Dampfer, gefolgt von Tilla. Diese beschwerte sich halblaut über die Kälte, und Anki beeilte sich zu versichern, dass es im Sommergarten windstill und daher auch wärmer sei. Die Chabenski-Mädchen freuten sich so sehr auf ihren ersten Ausflug in den Sommergarten in diesem Jahr, dass Anki ihnen diesen Tag nicht durch ihre übellaunige Schwester verleiden lassen mochte.
Voll Vorfreude eilten die Kinder auf das wunderschöne schmiedeeiserne Tor zu und betraten den von Bäumen gesäumten und von Kanälen umgebenen Park.
»Ob die Statuen schon aus ihren Holzkisten ausgepackt wurden?«, fragte Jelena aufgeregt und fiel dabei in ihre Muttersprache zurück.
Anki räusperte sich verhalten. Sie hatte den Auftrag, mit den Mädchen deutsch zu sprechen; immerhin stammte die Zariza aus Deutschland und selbst Fürstin Chabenskis Ahnenreihe wies einen preußischen Grafen
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