Himmel ueber fremdem Land
sie weiß nicht viel über das Leben hier.«
»Raisa weiß eine ganze Menge!«, protestierte das Mädchen.
Diesen Verdacht hegte Anki allerdings auch. Und ein Großteil von ihrem Wissen war mit Sicherheit nicht für die Ohren und die Seele einer Siebenjährigen geeignet.
In dem Versuch, Nina zum Nachdenken über ihre eigene Aussage zu bewegen, fragte sie: »Hat dir der Nachmittag im Park nicht gefallen?«
Ihr Schützling zögerte einen Moment, ehe sie zugab: »Doch, Fräulein Anki. Es war schön, endlich einmal wieder auf der Neva zu fahren, auch wenn es sehr kalt war. Und das Singen und Tanzen hat mir ebenfalls Freude bereitet.«
Kurz vor dem Flussufer ergriff Anki vorsorglich Jelenas Hand, um das übermütige Mädchen in ihrer unmittelbaren Nähe zu behalten.
»Schön, Nina, dass das Tanzen dir Freude bereitet hat«, setzte sie das begonnene Gespräch fort. »Es war aber vor allem deshalb schön und lustig, weil ihr nicht nur zu dritt, sondern zu mehreren wart, nicht wahr?«
Die kleine Prinzessin schob mit einer Hand ihre Pelzmütze nach hinten und sah sie mit gerunzelter Stirn an. »Sie meinen die Arbeiterkinder?«
»Von ihnen spreche ich, ja.«
»Sie waren sauber, ordentlich und höflich. Und nachdem wir mit dem Tanzen fertig waren, wussten sie, was sich gehört und eilten davon. Ich weiß von Raisa aber, dass wohlerzogene Arbeiterkinder die Ausnahme sind. Viele Eltern vernachlässigen ihre Kinder schrecklich, geben ihnen zu wenig zu essen, keine Schulbildung, keine einwandfreie Kleidung …«
Das tiefe Horn des Neva-Dampfers hallte über den Fluss und unterbrach den Redefluss des Mädchens, worüber Anki Dankbarkeit empfand. Während sie gemeinsam das Anlegemanöver beobachteten, beugte sie sich zu Nina hinunter und sagte verhalten, da sie von den umstehenden Damen und Herren nicht gehört werden wollte: »Manche Eltern haben nicht die Möglichkeiten dazu. Sosehr sie sich auch anstrengen, arbeiten und sparen, ihnen bleibt oftmals nicht einmal genug zum täglichen Leben.«
»Das ist traurig!«, erwiderte Nina, und für einen kurzen Augenblick sah Anki etwas wie Verständnis in ihrem Blick, bevor die kindliche Begeisterung über die neuerliche Schifffahrt beides fortwischte.
Anki beobachtete das Kind und fragte sich, welche Charaktereigenschaften sich bei diesem Mädchen und ihren Geschwistern in der Zukunft herauskristallisieren würden. Sie hoffte, einen gewissen Einfluss auf sie auszuüben, damit sie ihr Glück begriffen und bereit waren, es mit anderen zu teilen. Bei dieser Überlegung warf sie einen Blick in das Gesicht ihrer Schwester. Deren Glück standen momentan wohl gewaltige Widrigkeiten entgegen. Doch da Tilla sie nicht an ihrer Trauer und ihrem Schmerz teilhaben ließ, sah sie sich außerstande, ihr zu helfen.
***
Durchgefroren, aber glücklich kehrten Anki und die drei Mädchen in Begleitung der weiterhin in sich versunkenen Tilla in das prachtvolle Haus an der Mojka zurück.
Das Verhalten ihrer Schwester beunruhigte Anki immer mehr. So kannte sie die sonst oft sehr bestimmende, kontaktfreudige Tilla überhaupt nicht. Natürlich war sie ihrer guten Erziehung entsprechend niemals vorlaut oder übermäßig aufdringlich gewesen, aber das fast verbissene Schweigen, das sie jetzt an den Tag legte, war Anki vollkommen fremd.
Jakow, bekleidet mit einer schwarzen, mit Goldtressen und -litzen besetzten Livree, schloss hinter ihnen die Tür, und noch ehe er den Mädchen die Mäntel, Muffs, Mützen und Handschuhe abnahm, wandte er sich an Anki. »Sie haben Besuch, Sudarynja 24 .«
Der ältere Herr deutete auf die geschlossene Tür des kleinen Besuchszimmers.
»Mädchen, bitte geht in eure Zimmer und sagt Marfa, sie soll euch beim Umkleiden für das Abendessen helfen. Ich komme sofort nach. Tilla, Jakow wird dich in den Weißen Salon führen. Ich bin sicher gleich wieder bei dir. Dann unterhalten wir uns noch eine Weile.«
Eilig pellte Anki sich aus ihrem Mantel, reichte ihn Jakow und trat über den im Blumenmuster angelegten mehrfarbigen Parkettboden des Foyers zur Tür des Besuchszimmers. Neugierig darauf, wer sie besuchen wollte, öffnete sie schwungvoll die Tür – und erstarrte.
Vor dem sanft flackernden, leise prasselnden Feuer im Kamin saß Rasputin. Er hatte seine Füße mitsamt den schmutzigen Stiefeln auf die Sitzfläche des zweiten Sessels gelegt, die Hände vor seinem Bauch gefaltet und nahm nicht einmal den Blick von den Flammen, obwohl er gewiss das Öffnen der Tür gehört
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