Himmel über London
waren. Damals war ihr leiblicher Vater, der Oberarzt der klinischen Psychiatrie am Gemejnte Hospital, Ralph deLuca, bereits seit Langem in dieser Rolle nicht mehr vorhanden gewesen. Irina hatte keinerlei Erinnerung daran, dass er überhaupt jemals mit seiner ersten Familie unter einem Dach gewohnt hätte, doch ihre Mutter Maud behauptete immer wieder hartnäckig, dass dem natürlich so gewesen sei. Doch da sie es nie genauer präzisieren wollte, gingen die Geschwister davon aus, dass es sich höchstens um ihr erstes oder vielleicht noch zweites Lebensjahr gehandelt haben könnte. Maud hielt normalerweise mit den Dingen und ihren Ansichten nicht hinter dem Berg, doch in diesem Fall hatte sie es getan. Freundlich, aber entschieden, sicher gab es einen Grund dafür.
Auf jeden Fall waren Irina und Gregorius es schon seit langer Zeit gewohnt gewesen, ohne Vater und Vaterbild zu leben, als Leonard Vermin an einem warmen, vielversprechenden Juliabend 1990 an der Tür klingelte. Er war sonnengebräunt, lächelte und hatte die Arme voll mit Wein und Rosen für Maud sowie sicher einigen Kilos an ekliger Schokolade für die Kinder. Er hatte ihrer Mutter einen Kuss gegeben, sie hatte ihn an die Hand genommen und gesagt, dass Leonard und sie sehr, sehr gute Freunde seien. Ein paar Wochen später hatte er ihre Mutter mit in die griechische Inselwelt genommen, während Irina und Gregorius ins Fegefeuer zu ihrem Psychopapa Ralph kamen, auf ein Segelboot, das für vier Personen gedacht war, aber auch dessen neue Ehefrau Bella und die drei Halbgeschwister im Alter von zwei bis sechs Jahren beherbergte. Mitte Oktober war Leonard in die Wohnung am Barins Park eingezogen.
Zu der Zeit war er gerade fünfzig geworden. Jetzt stand er im Begriff, die siebzig zu erreichen. Und das war das Problem.
Zumindest war es für Irina ein Problem. Aus irgendwelchen unerklärlichen Gründen sollte eine Siebzigjahrfeier veranstaltet werden – oder zumindest ein Geburtstagsessen. Und das auch noch in London.
Irina mochte nicht verreisen. Sich in ein vollbesetztes Flugzeug zu setzen, inmitten einer Unmenge von unbekannten Ansteckungsherden, die mit kontaminiertem, in Massenproduktion hergestelltem und im Mikroofen erhitztem Junkfood herumsauten, anschließend dann in einem fremden Land zu landen, von neuen Bazillenträgern bedrängt zu werden und schließlich in irgendeinem mehr oder weniger ungepflegten Hotel einzuchecken, das war ganz einfach das Dreckigste, was man überhaupt über sich ergehen lassen konnte. Mahlzeiten zu sich zu nehmen, die jemand anderes in klebrigen Bars und pestverseuchten Restaurants zubereitet hatte – Irina hatte nur ein einziges Mal in ihrem Leben eine derartige Reise mitgemacht, mit ihrer High-School-Klasse, als sie achtzehn Jahre alt war. Man hatte für eine Woche eine billige Charterreise nach Rom gebucht, und es war eine schreckliche Erfahrung gewesen, sie hatte es nur mit Mühe und Not überstanden und bekam noch heute Albträume davon.
Mittlerweile ging sie nur einmal im Jahr auf Reisen, zusammen mit Herbert, der sozusagen ihr Freund war, auch wenn sie selten miteinander Kontakt hatten und nie auf die Idee gekommen wären, beim anderen zu übernachten. Sie pflegten sich während des Urlaubs, Anfang August, ein fabrikneues Auto zu mieten und nach Lindau am Bodensee zu fahren. Dort verbrachten sie drei Tage und drei Nächte in der Pension Kraus, ein Hochglanzhotel der Fünfsternekategorie, das sie im Internet gefunden hatten. Sie wohnten jedes Mal in derselben Suite, Nummer 312, mit getrennten Schlafzimmern und Blick auf den See und die Schweizer Alpen. Herbert war acht Jahre älter als sie, in der zweiten Nacht schliefen sie miteinander, er war der schüchternste Mensch, den sie jemals getroffen hatte, ihre Mutter war ihm durch ein Versehen einmal begegnet und hatte sofort massiven Asperger diagnostiziert. Was Irina ausgezeichnet passte. Nach dem jährlichen Beischlaf verbrachte sie gern eine Stunde in Abgeschiedenheit in der Badewanne der Suite. Sie war aus schwarzem Marmor, und sie hatte sie bereits vor dem Ereignis mit Karbolspiritus gereinigt, den sie immer in einer braunen Apothekerflasche in ihrer Handtasche bei sich trug.
Sie hatte gehört, dass London eine große, lärmende und schmutzige Stadt war. Die Reinigungskräfte streikten dort in regelmäßigen Abständen. Man heizte dort vorwiegend immer noch mit Steinkohle, und sie hatte ihren Dickens gelesen.
Und ausgerechnet dort wollte Leonard also seinen
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