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Himmel über London

Himmel über London

Titel: Himmel über London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nesser
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hören, sie stolperte die kurze Treppe hinauf und gelangte in einen hohen, kühlen Vorraum. Dort stand ein Aufseher, er nickte ihr zu und hielt ihr einen dunkelroten Vorhang offen. Sie senkte den Blick und trat in den eigentlichen Kirchenraum. Abgesehen von dem Chor, der auf einer gut verborgenen Empore stand und übte, war es vollkommen menschenleer. Reichlich Ornamentik, Gold und Schnitzereien und viele brennende Kerzen, doch kein Mensch. Ein leichter Duft nach Räucherwerk. Sie ließ sich auf eine Bank sinken, stützte den Kopf in die Hände und blieb mehrere Minuten lang reglos sitzen. Die gemischten Stimmen des Chors fuhren mit ihrem Wechselgesang fort. Steigend und fallend. Fallend und steigend. Sie hielt immer noch den Brief in der Hand, und als sie meinte, ihr Puls und ihr Atem hätten sich langsam wieder dem normalen Rhythmus genähert, hob sie ihn hoch, um ihn zu betrachten.
    Sie spürte ungemein starken Widerstand, ihn zu öffnen, und fragte sich noch immer, was sie dazu gebracht hatte, in diesen Pub zu gehen. Es schien, als hätte jemand anderes ihre Schritte gelenkt, und wahrscheinlich war es derselbe, der dafür gesorgt hatte, dass sie diese Kirche fand. Genau das: eine Kraft außerhalb ihrer Kontrolle. Aber vielleicht ist es ja so, wenn man verrückt wird, dachte sie. Wenn man seinen Sinnen und seinem Urteilsvermögen nicht mehr trauen kann. Man entschließt sich, etwas zu tun, und dann tut man etwas vollkommen anderes. Kopf und Körper hängen nicht mehr zusammen. Man ist wie das Schilf im Wind.
    Und dann bemerkte sie, dass der Umschlag nicht einmal zugeklebt war. Der Briefschreiber, oder vielleicht auch eine andere Person, hatte die Lasche einfach nur eingesteckt. Sie musste ihn nicht einmal aufreißen.
    Ich warte, bis ich zurück im Hotel bin, beschloss sie, und dann holten ihre Hände den Brief heraus.
    Sie gehorchten ihr nicht, genau wie sie festgestellt hatte, und als sie ihre Augen ermahnte, nicht zu lesen – sondern sich so fest zuzukneifen, wie sie nur konnten –, da lasen sie.
    Du hast dafür gebetet, dass ich verschwinde.
    Und da bin ich verschwunden.
    Ich wollte nicht in dem kalten Wasser landen.
    Warum hast du meinen Tod gewünscht?
    Wegen Arno?
    Hilf mir, nach Hause zu kommen.
    Ich friere.
    Nur diese sieben Zeilen. Sie zählte die Worte. Sechsunddreißig. Warum zähle ich die Worte?, dachte sie. Um nicht darüber nachzudenken, was da steht?
    Denn sie verstand es nicht. Noch nicht.
    Aber sie wusste, dass sie es bald tun würde. Verstehen. Es war sonderbar. Eine Erinnerung hatte sich aus dem Boden schlamm des Vergessens gelöst und wirbelte schnell an die Oberfläche. Vor ihrem inneren Auge konnte Irina sehen, wie sie sich dort unten im schwarzen Wasser näherte, fast wie ein weißer Schmetterling, und sie wollte es gar nicht wissen.
    Nicht erinnern. Nicht begreifen.
    Doch es war nicht aufzuhalten. Natürlich war es nicht aufzuhalten, plötzlich war der Schmetterling an der Oberfläche, und sie sah ihr altes Kinderzimmer mit der Blümchentapete in der Barins allé. Sie lag in ihrem Bett, die kleine Lampe mit dem roten Schirm war eingeschaltet, und sie hatte ihre Hände unter der Decke gefaltet.
    Lieber Gott, mach, dass Clarissa stirbt.
    Und zwei Tage später war Clarissa im Eis eingebrochen.
    Sie starrte auf den Text. Dieselbe kindliche Handschrift wie bei ihrem Namen draußen auf dem Umschlag. Aber keine Versalien. Arno?, dachte sie. War es wegen Arno?
    Ja, es war wegen Arno. Clarissa und sie hatten sich in denselben Jungen aus der Parallelklasse verliebt, das hatten sie sich gegenseitig erzählt. Er hieß Arno, er hatte dunkles, lockiges Haar, und er hatte Clarissa Hendersen Irina Miller vorgezogen. Durch irgendetwas hatte sie das an diesem Tag herausbekommen, und deshalb sprach sie ihr einfaches Gebet: Lieber Gott, mach, dass Clarissa stirbt.
    Das hatte sie tatsächlich gebetet. Hatte genau diese Worte benutzt. Aber das war doch nicht ernst gemeint gewesen! Es war ihr zwei Tage später eingefallen, damals, als es tatsächlich passiert war, aber sie hatte kein schlechtes Gewissen gehabt. Zumindest nicht nennenswert; dass Gott derartigen Gebeten Gehör schenkte, das konnte sie ganz einfach nicht glauben, es war wirklich nicht üblich, dass er auf so lockere Art und Weise Dinge für sie regelte. Und später hatte Arno sich in ein blondes, albernes Mädchen namens Elsbeth Bollmeyer verguckt, also hatte es noch nicht einmal etwas gebracht.
    Doch an diesem Tag, zwanzig Jahre später, in

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