Himmel über Ostpreußen: Schicksalsjahre einer Familie (German Edition)
zur Seite.
»Stell dich nicht so an. Einer muss immer der Erste sein.« Amalie schloss die Augen. Ihr Gesicht war leichenblass. Dann sagte sie mit kalter Stimme: »Ellart von Kaulitz, ich will Sie nie wieder sehen.«
Seit einigen Wochen war ganz Birkenau in heller Aufregung. Zu Weihnachten wurden die ›Kinder‹ erwartet. Obwohl inzwischen neunzehn Jahre alt, waren sie immer noch die Kinder. Alexander und Ellart hatten das erste Mal Urlaub bekommen, und auch Franz hatte seinen Arbeitgeber gebeten, ihn zu seiner Mutter fahren zu lassen, die schrecklich unter dem Tod seiner Schwester litt. Schweine und Hühner waren geschlachtet worden, und Jesko hatte extra ein paar Hasen geschossen, damit Alexander seine Leibspeise, Hasenlapatten mit Schmant, bekommen konnte. In der Küche wurde gebacken, gebraten und geräuchert, und bald waren die Kühlkammern gefüllt mit Würsten, Sülzen, Pasteten und kaltem Braten. Denn nicht nur die Kinder wurden erwartet. Das Schloss würde kurz nach Weihnachten wieder einmal voll mit Gästen sein, das erste Mal nach Eberhards Tod.
»Die Zeiten sind schlecht«, hatte Jesko gesagt. »Überall herrscht Trauer und Verzweiflung. Aber wir lassen uns nicht unterkriegen. Wir wollen all das Schreckliche für ein paar Tage vergessen und unsere Freunde um uns scharen.«
Alle hatten ihm zugestimmt, und so waren die Einladungen verschickt worden. Heimlich hatte Elvira auch eine an Clemens nach London gesandt. Sie fand, es war an der Zeit, dass der Junge sich mal wieder blicken ließ. Aglaia hatte Minchen gefragt, ob sie die ganze Belastung mit den vielen Gästen denn schaffen würde. »Du kannst zu deiner Familie nach Kalitken fahren, wenn dir das etwas Trost gibt, Minchen.«
Aber die war fast entrüstet. »Ich lass Ihnen doch nich im Stich, Frau von Kaulitz. Das Lenchen fehlt mir gjanz schrecklich, aber es is nu man so, wie es is, da kann mir keener nich helfen. Und die Arbeit lenkt mir ab. Nischt nich hilft mir mehr als Arbeit.«
Als dann der Brief von Franz kam, dass auch er zu Weihnachten Urlaub bekommen hatte, strahlte sie zum ersten Mal seit langem wieder. »Dat Jungchen kommt, um mir zu trösten. Was für eine Freude aber auch.«
Am Tag vor Heiligabend trafen die Jungen ein. Josef holte sie mit dem Schlitten vom Bahnhof ab. Alexander kam mit einem Zug aus Allenstein, und Ellarts Zug aus Posen würde eine Stunde später in Insterburg ankommen. Es wehte ein eisiger Ostwind. Die Pelzmütze tief ins Gesicht gezogen, stapfte Alexander durch die verschneiten Straßen zum Café am Marktplatz, wo er und Franz sich treffen wollten, damit Josef die Fahrt nicht mehrmals machen musste und die beiden Freunde noch eine ruhige Minute alleine hatten. Überall herrschte emsige Betriebsamkeit. Menschen hasteten an ihm vorbei, um noch die letzten Dinge für das Fest zu besorgen. Das Café, sonst immer überfüllt, war nur mäßig besucht. Franz erwartete ihn bereits, vor sich ein großes Bier und einen Teller heißer Erbsensuppe. Die beiden Freunde begrüßten sich mit einer herzlichen Umarmung.
»Wie geht es dir, alter Junge?«, fragte Alexander. »Es tut gut, dich mal wieder zu sehen.«
»Gleichfalls!«, lachte Franz. Man sah ihm seine Freude an.
»Für mich genau das Gleiche«, bestellte Alexander bei der Bedienung. »Diese Suppe, wie die riecht …« Er schloss genießerisch die Augen. »Wie lange habe ich schon nichts Anständiges mehr zu essen bekommen!«
»Was, du auch nicht?« Franz schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich dachte, nur ich als gewöhnlicher Eleve werde schlecht behandelt.«
»Bei mir sind Unterkunft und Essen unter aller Kanone, und wenn mir eine der Mägde nicht ab und an mal ein Stück Speck oder Wurst zustecken würde, wäre ich schon längst vom Fleisch gefallen. Die Arbeit geht ganz schön in die Knochen. In aller Herrgottsfrüh den Stall ausmisten, dann gleich an den Pflug – knochentrocken war der Boden bei der Hitze. Und die trübe Stimmung, einfach furchtbar! Schließlich schon wieder ein Jahr mit einer schlechten Ernte. Am Abend spüre ich meine Knochen nicht mehr«, fuhr Alexander fort. »Wenn ich morgens mal fünf Minuten zu spät erscheine, kriege ich eine Rüge. »Dienstjahre sind keene Herrenjahre nich. Ejal, ob man Gjraf is oder Bauer«, machte Alexander seinen Vorarbeiter nach.
»Mir geht es nicht anders«, erzählte jetzt Franz. »Mein Vorarbeiter schikaniert mich, wo er nur kann. Der Mann ist ein Sadist. Und das Essen … einfach grauenhaft. Ob du es glaubst
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