Himmel über Ostpreußen: Schicksalsjahre einer Familie (German Edition)
trommelnden Regens verschluckt wurde. »… die Verantwortung für das Kind liegt jetzt in den Händen Ihres Hauses.« Sie überreichte ihr ein Couvert. »Das sind die Papiere zur Freigabe der Adoption. Man besteht auf Anonymität.« Sie drückte die Hand der Frau. »Finden Sie jemanden, der gut zu dem Kind ist.«
Sie ahnte nicht, dass Agnes in einem unbeobachteten Moment Tanyas kleines Holzkästchen in den Korb gesteckt hatte. Ungerührt nahm die Frau das Körbchen und wandte sich zum Gehen. »Ich werde sehen, was sich machen lässt. Aber viel Hoffnung habe ich nicht. Die Zeiten sind schlecht.«
Wilhelmine musste das Bett hüten. Der Schock war ihr in die Glieder gefahren. Weniger die Nachricht von Tanyas Tod noch ihre, wie sie fand, elegante Lösung mit dem Kind bedrückten sie, sondern dass dank der Klühspieß der Skandal Gespräch im ganzen Landkreis sein würde. Alle Besucher wurden von Kurt abgewiesen, was zu noch mehr Spekulationen führte.
Horst wurde am nächsten Tag aus Berlin zurückerwartet, also versuchte sie gar nicht, ihn zu informieren. Eine Depesche hätte ihn vermutlich nicht mehr erreicht. Allerdings war ihr äußerst mulmig bei dem Gedanken, ihm persönlich vom Ableben Tanyas berichten zu müssen und ihm ihre Lügengeschichte über das Kind aufzutischen. In der Nacht fand sie kaum Schlaf. Immer wieder schreckte sie schweißgebadet hoch und malte sich in düstersten Farben aus, wie er wohl darauf reagieren würde. Am Morgen machte sie sich sorgfältig zurecht. Sie hatte in den letzten Tagen wenig zu sich genommen und fand sich in ihrem schwarzen Taftkleid mit dem Spitzenschleier auf dem wohlfrisierten Haar ganz passabel aussehend. Als sie den Frühstücksraum betrat, war Horst schon in seine Zeitung vertieft. Er begrüßte sie förmlich mit einem Handkuss. »Du bist in Schwarz. Gibt es einen Anlass?«
»Meinen Tee, Kurt«, sagte Wilhelmine nur, »und dann lass uns bitte allein.«
Horst sah sie fragend an. Ihre Hand zitterte, als sie nach der Tasse griff: »Tanya ist tot.«
Der Graf sprang auf und wandte ihr den Rücken zu, um seine Tränen zu verbergen. »Wie ist es passiert, und was ist mit ihrem Kind?«
»Die Nachricht erreichte mich gestern Abend. Mutter und Kind sind bei der Geburt gestorben.«
»Wie konnte das nur geschehen? Ich habe sie kein einziges Mal mehr gesprochen, sie war ganz allein!« Seine Gefühle übermannten ihn, und er brauchte einen Moment, um sich wieder zu sammeln. »Wer kümmert sich um ihre Beisetzung?« Es fiel ihm sichtlich schwer zu sprechen.
»Christine hat vorgeschlagen, dass beide wohl am besten ihre letzte Ruhe auf dem Klosterfriedhof finden sollten. Auch ich halte das für die beste Lösung für alle Beteiligten.« Wilhelmine atmete erleichtert auf. Das ging ja alles besser, als sie befürchtet hatte.
Bei ihren Worten drehte der Graf sich um. Seine Ader auf der Stirn pochte, als würde sie gleich zerplatzen, und seine Augen loderten vor Zorn. »So«, sagte er drohend, »denkst du das! Besser hätte es für dich ja auch gar nicht kommen können! Keine Tanya mehr, kein ungewünschtes Kind, kein Skandal!« Seine Stimme war schneidend. »Ist es nicht so? Zumindest für dich ist es doch die beste Lösung, wie du das so treffend eben formuliert hast.«
»Ich muss doch sehr bitten, Horst!« Empört fächelte Wilhelmine sich Luft zu.
»Wenn ich Christine von Lerchenfeld nicht kennen würde«, fuhr er fort, »würde ich dir glatt zutrauen, alles so arrangiert zu haben.« Wie Peitschenhiebe trafen sie seine Worte.
»Das ist unerhört.« Wilhelmine erhob sich. »Ich werde mir das nicht länger anhören.«
»Du bleibst!«
Erschrocken sank sie auf ihren Stuhl zurück.
»Ich bin noch nicht fertig!«
Was hatte er bloß vor? Wilhelmine beschlich eine schreckliche Ahnung. »Ich will dich nicht mehr sehen«, sagte er nun ganz ruhig. Er hatte seine Contenance wiedergefunden. »Jetzt, wo auch Aglaia nicht mehr hier ist, zieht es mich nicht mehr allzu oft nach Wallerstein.«
Entsetzt sah Wilhelmine ihn an. »Willst du etwa eine Scheidung?« Aus ihrem Gesicht war alle Farbe gewichen.
»Falls du meine Bedingungen nicht akzeptierst.«
Wilhelmine atmete auf. Zum schlimmsten Skandal würde es also nicht kommen. »Und die wären?«, fragte sie kalt.
»In Zukunft werde ich meinen Lebensmittelpunkt nach Berlin verlegen. Ohne mich gibt es hier keine großen Gesellschaften mehr. Selbstverständlich kannst du deine …«, er zögerte kurz, »… deine Freundinnen weiter
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