Himmel über Ostpreußen: Schicksalsjahre einer Familie (German Edition)
empfangen. Aber ich schlage vor, dir in Insterburg oder Königsberg ein Stadthaus zu suchen. Ich komme für die Kosten auf. Wenn ich zu den Jagden nach Wallerstein komme, wirst du dich dorthin zurückziehen.«
»Was, wie bitte?« Wilhelmine war völlig vor den Kopf gestoßen. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie sah ihre gesellschaftliche Stellung schwinden.
Er wandte sich zum Gehen. »Ich nehme an, Aglaia weiß schon über Tanya Bescheid. Ich reite jetzt hinüber nach Birkenau. Wenn ich zurück bin, erwarte ich deine Entscheidung.« Er ließ eine fassungslose Wilhelmine zurück.
Horst fand Elvira allein im Rosengarten. Ein breitkrempiger Strohhut schützte ihr Gesicht vor der Sonne. Mit einer großen Rosenschere schnitt sie langstielige Blüten und legte sie in einen Korb. Sie summte leise vor sich hin. Ihr Anblick war die reine Harmonie. Sie wandte Horst den Rücken zu, aber das Knirschen seiner Schuhe auf dem Kies ließ sie aufhorchen. »Ah, du bist das, Horst! Wie schön, dich zu sehen.« Sie streifte ihre Handschuhe ab und ging ihm mit ausgestreckten Händen entgegen. Sie sah ihm an, dass er Bescheid wusste. Wortlos nahm sie ihn in den Arm. »Ich weiß, wie dir zumute ist«, sagte sie leise. »Es ist erschütternd.«
Für einen Moment verlor Horst die Fassung. Sie strich ihm zart über den Rücken. Dann strafften sich seine Schultern. »Verzeih, Elvira«, sagte er, »aber ich kann es noch gar nicht fassen. Ich hätte Wilhelmine das nicht allein überlassen dürfen, ich meine das Problem mit Tanya. Das arme Kind muss sich furchtbar verlassen gefühlt haben. Ich mache mir schreckliche Vorwürfe.«
»Das musst du nicht, Horst«, versuchte Elvira ihn zu beruhigen. »Ich weiß, Wilhelmine hat mit Tanya viele Fehler gemacht. Aber für das, was nun passiert ist, kannst du weder ihr noch dir die Schuld geben. Auch du hättest das nicht verhindern können. So etwas nennt man wohl Schicksal.« Arm in Arm gingen sie langsam zum Schloss zurück. »Jesko und Eberhard sind in Linderwies. Ich erwarte sie zum Kleinmittag zurück. Du isst doch mit uns?«
»Ja, sehr gern, auch wenn mir gerade gar nicht nach Essen zumute ist. Und vorher möchte ich unbedingt Aglaia sprechen. Wo finde ich sie?«
»Sie ist auf ihrem Zimmer. Es geht ihr nicht gut. Seit der schrecklichen Nachricht hütet sie das Bett. Aber ich bin mir sicher, dein Besuch wird ihr eine große Freude sein. Ich bringe dich zu ihr.« Sie zögerte einen Moment. »Und Horst, willst du es ihr nicht endlich sagen?«
Er nickte. »Ich hätte es längst tun sollen.«
Elvira öffnete leise die Tür zu Aglaias Schlafzimmer. Die Vorhänge waren zugezogen, die Luft war heiß und stickig. »Aglaia, Liebes, du hast Besuch«, flüsterte Elvira.
»Du weißt doch, Tante Elvira, ich will niemanden sehen.« Aglaias Stimme klang müde. Resolut zog Elvira die Vorhänge auf und öffnete das Fenster.
»Nun sieh doch erst mal, wer da ist.« Mühsam richtete Aglaia sich auf. Geblendet von der Sonne, hielt sie sich die Hand vor die Augen. Dann entspannte sich ihr Gesicht kurz. »O mein Gott, Papachen, du bist es! Endlich, ich habe so sehr auf dich gewartet!« Vater und Tochter fielen sich in die Arme. Beide konnten ihre Tränen nicht zurückhalten, und Elvira verließ leise das Zimmer.
Eine Weile hielten sie sich fest umschlungen, dann sagte Horst: »Aglaia, Liebling, es gibt etwas, das ich dir sagen muss.« Er hatte sich aus ihrer Umarmung gelöst und trat ans Fenster. »Ich hätte es längst tun sollen …« Er zögerte kurz. »Aber leider hatte ich nie den Mut dazu.« Aglaia sah ihn fragend an. Er hatte ihr den Rücken zugewandt und blickte in den Park hinaus. Seine Stimme zitterte, als er weitersprach. »Unsere geliebte Tanya war deine Halbschwester.«
Fassungslos starrte Aglaia auf den Rücken ihres Vaters. »Aber Papachen … wie ist das denn möglich? Tanya war doch jünger als ich …« Nach einer kurzen Pause: »… weiß Mama davon?«
»Ja, sie weiß es, seit Tanya zu uns gekommen ist. Aber das ist eine lange Geschichte.«
»Tanya meine Schwester …« Sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Weißt du, Papa, ich wollte sie mit ihrem Kindchen zu uns nehmen …« Sie schluchzte auf. »Unsere Kinder sollten zusammen aufwachsen. Ach Papachen, weißt du es überhaupt schon? Ich erwarte ein Kind.«
»So nah liegen Freud und Leid beieinander«, murmelte er. »Liebes, das freut mich sehr, auch wenn ich es im Moment noch nicht wirklich erfassen kann.« Dann sagte er mit fester
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