Himmel über Ostpreußen: Schicksalsjahre einer Familie (German Edition)
Oktober. Beide gehen in Insterburg auf das Gymnasium, übrigens zusammen mit Franz Basedow, dem Jüngsten von Eberhards Oberinspektor.«
»Nanu, wieso denn das?«
»Franz ist außergewöhnlich begabt. Alexander und er sind seit frühester Kindheit dicke Freunde, sehr zum Leidwesen von Ellart. Er scheint mir ein bisschen eifersüchtig.«
»Sollte Alexander nicht zu den Kadetten?«, fragte Horst erstaunt.
»Eberhard hat ihm Aufschub gegeben bis nach der Matura.« Aglaia zuckte mit den Schultern. »Den Jungen zieht es nicht so sehr zum Militär. Ich glaube, er würde sehr viel lieber Landwirt werden.« Sie schwiegen eine Weile.
»Vielleicht solltet ihr ihn gewähren lassen«, meinte Horst nachdenklich. »Ach, und Eberhard depeschierte mir, dass er unabkömmlich sei und Ferdinand dich begleitet. Wo ist er? Ich hatte ihn hier erwartet.«
»Er hat eine kleine Wohnung in der Clausewitzstraße. Dort logiert er immer, wenn er in Berlin ist. Er meint, das sei für ihn und vor allem für dich kommod. Übrigens möchte er uns morgen Mittag im Restaurant Diener’s treffen. Ich hoffe, es ist dir recht, Papa?«
Horst lächelte. »Eine gute Wahl, mein Kind, hervorragende Küche. Dort verkehrt die so genannte ›feine Berliner Gesellschaft‹, reiche Geschäftsleute, Herren vom diplomatischen Korps und sehr elegante Frauen. Und hin und wieder auch mal ein paar Parvenüs, na ja, du weißt schon. Aber damit muss man heutzutage ja überall rechnen. Die Zeiten haben sich eben geändert.«
Aglaia drückte seine Hand. »Ich soll dich übrigens ganz herzlich von allen grüßen, besonders von Tante Elvira.« Ihr Gesicht umwölkte sich. »Sie ist wie eine Mutter zu mir. Du weißt, zu Mama habe ich kaum Kontakt.«
»Ich weiß, mein Kind. Aber das ist für uns beide ein so unerfreuliches Thema. Was gibt es denn so Neues?«
Aglaia berichtete von Ferdinands regelmäßigen, aber nie sehr langen Besuchen auf Birkenau und wie sehr er immer alle mit den Klatschgeschichten aus der großen Welt unterhielt. »Bismarck soll eine Geliebte haben«, berichtete Aglaia errötend, »hast du das gewusst? Wir wollten es alle gar nicht so recht glauben.«
»Ja, jeder wusste davon. Es war, als er Gesandter in Paris war. Eine Fürstin Katharina Orlow. Ich habe sie einmal getroffen, eine sehr schöne Frau. Aber seit er zurück in Berlin ist, scheint es vorbei zu sein. Man sagt, seit er Preußens Ministerpräsident geworden ist, interessiert er sich für nichts mehr anderes als die Politik.«
Aglaia wechselte das Thema. »Stell dir vor, Papa, Gustav Goelder hat sich verlobt und heiratet bald in Riga. Wir sind eingeladen, und Tante Elvira findet, ich solle mir bei Gerson dafür etwas Elegantes kaufen. Was meinst du, würdest du mich dorthin begleiten?«
Horst strahlte. »Das wird mir ein ganz besonderes Vergnügen sein, mein Liebling, wirklich eine große Freude. Morgen nach dem Mittagessen haben wir einen Termin bei meinem Notar, und übermorgen gehen wir zu Gerson. Es ist ein sehr eleganter Salon am Hausvogteiplatz. Ich werde uns gleich dort anmelden.«
Es war dämmrig geworden, und bevor Aglaia fragen konnte, was sie um Himmels willen bei einem Notar sollte, erhob sich ihr Vater. »Bitte entschuldige mich jetzt, mein Kind, es ist schon spät. Ich habe noch einige wichtige Dinge zu erledigen. Jakob wird dir dein Zimmer zeigen. Du musst erschöpft sein von der langen Reise. Wir sehen uns morgen zum Frühstück.«
Es dauerte lange, bis Aglaia in einen unruhigen Schlaf fiel. Trotz der weit geöffneten Fenster kühlte die Luft kaum ab, und ihre Gedanken kamen nicht zur Ruhe. War ihr Vater doch kränker, als es den Anschein hatte? Und was sollte bloß der Besuch bei einem Notar? Als eine nahe gelegene Kirchturmuhr zehn schlug, trat sie an das Fenster und suchte Tanyas Stern. »Ich habe Angst um unseren Vater, geliebte Schwester«, sagte sie leise. »Vielleicht kannst du ihn von da oben ja beschützen.«
Das Diener’s war wie immer gut besucht. Aglaia gefiel der herrschaftliche Raum, in dem fast alle Tische besetzt waren mit Offizieren in Uniform und elegant gekleideten Frauen und Männern jeden Alters, die sich angeregt unterhielten. Einige von ihnen begrüßten Horst mit »Hallo, lieber Wallerstein« oder auch nur mit einem höflichen Kopfnicken. Er schien hier sehr bekannt zu sein, und leises Tuscheln und erstaunte Blicke zeigten, dass man sich fragte, wer wohl die schöne Unbekannte an seiner Seite war. ›Es ist genau, wie Papa es beschrieben
Weitere Kostenlose Bücher