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Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Titel: Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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hielt –, aber die Schiebetür ließ sich nicht öffnen. Sie spähte durch einen Spalt zwischen den Brettern, bis ihre Augen sich an das Dunkel im Innern gewöhnt hatten, dann sah sie, dass der Sandboden des Schuppens leer war. Keine Möbelkisten. Sie rief mehrmals: »Ist da jemand? Ist da jemand?«, erwartete aber keine Antwort.
    Sie stand auf dem Bahnsteig und versuchte sich zu orientieren.
    Ungefähr eine halbe Meile weit entfernt lag ein sanfter Hügel, der sofort auffiel, weil er von Bäumen bestanden war. Und der sandige Weg, den sie, als sie ihn vom Zug aus sah, für einen Feldweg gehalten hatte – das musste die Straße sein. Jetzt konnte sie hier und da niedrige Häuser zwischen den Bäumen ausmachen – und einen Wasserturm, der aus dieser Entfernung wie ein Spielzeug aussah, ein Zinnsoldat auf langen Beinen.
    Sie nahm ihren Koffer – das müsste zu schaffen sein; schließlich hatte sie ihn schon von der Exhibition Road zu dem anderen Bahnhof getragen – und machte sich auf den Weg.
    Es ging ein starker Wind, trotzdem war es sehr warm – wärmer als das Wetter, das sie in Ontario hinter sich gelassen hatte –, und auch der Wind kam ihr warm vor. Über ihrem neuen Kleid trug sie ihren alten Mantel, der im Koffer zu viel Platz beansprucht hätte. Sie schaute sehnsüchtig zu dem Schatten, den die Stadt vor ihr versprach, aber als sie dort anlangte, stellte sie fest, dass es sich bei den Bäumen entweder um Fichten handelte, die zu schlank und karg waren, um viel Schatten zu spenden, oder um schüttere, dünnblättrige Pappeln, die vom Wind gezaust wurden und ohnehin die Sonne durchließen.
    Es herrschte ein abweisender Mangel an Struktur oder irgendeiner Form von Organisation in diesem Ort. Keine Bürgersteige oder gepflasterten Straßen, keine imposanten Gebäude außer einer großen Kirche wie eine Backsteinscheune. Über der Tür eine Malerei, auf der die Heilige Familie mit lehmfarbenen Gesichtern aus starren blauen Augen herabblickte. Sie hieß nach einem unbekannten Heiligen – Sankt Woitek.
    Die Häuser zeigten in ihrer Lage oder Anlage nicht viel Vorbedacht. Sie standen in verschiedenen Winkeln zum Weg oder zur Straße, und die meisten hatten böse blickende kleine Fenster an unvorhergesehenen Stellen und um die Haustüren Windfänge wie Kisten. Niemand war draußen in den Vorgärten, und warum auch? Es gab nichts zu pflegen, nur Büschel braunes Gras und einmal eine riesige Rhabarberstaude, ungeerntet.
    Die Hauptstraße, wenn sie es denn war, hatte einen aus Brettern gezimmerten Gehsteig, allerdings nur auf einer Seite, und war in unregelmäßigen Abständen von Läden gesäumt, von denen nur ein Lebensmittelgeschäft (das auch das Postamt beherbergte) und eine Autowerkstatt in Betrieb zu sein schienen. Ein einziges Haus hatte ein Obergeschoss, und sie dachte schon, es könnte das Hotel sein, aber es war eine Bank, und die war zu.
    Der erste Mensch, den sie erblickte – bisher war sie nur von zwei Hunden angebellt worden –, war ein Mann vor der Autowerkstatt, der Ketten auf seinen Pick-up lud.
    »Das Hotel?«, sagte er. »Da sind Sie hier zu weit.«
    Er erklärte ihr, das sei unten beim Bahnhof, auf der anderen Seite der Gleise und dann noch ein Stück, blau angestrichen und nicht zu verfehlen.
    Sie setzte ihren Koffer ab, nicht entmutigt, sondern weil sie sich kurz ausruhen musste.
    Er sagte, wenn es ihr nichts ausmache, kurz zu warten, könne er sie hinfahren. Und obwohl es für sie etwas ganz Neues war, solch ein Angebot anzunehmen, saß sie bald darauf in der heißen, öligen Fahrerkabine seines Pick-ups und schaukelte auf der Schotterstraße zurück, die sie gerade zu Fuß hinter sich gelassen hatte, während auf der Ladefläche die Ketten einen Höllenlärm veranstalteten.
    »Von wo haben Sie denn diese Hitzewelle mitgebracht?«, fragte er.
    Sie sagte, von Ontario, in einem Ton, der nichts weiteres versprach.
    »Von Ontario«, sagte er mitleidig. »Na ja. Da ist es. Ihr Hotel.« Er nahm eine Hand vom Steuer. Zur Begleitung machte das Auto einen Satz, als er auf ein zweigeschossiges Haus mit Flachdach wies, das ihr nicht entgangen war, sondern das sie schon vom Zug aus gesehen hatte. Vorhin hatte sie es für ein großes und ziemlich baufälliges, vielleicht leer stehendes Familienheim gehalten. Nachdem sie inzwischen die Häuser in der Stadt gesehen hatte, war ihr klar, sie hätte es nicht so rasch abtun dürfen. Es war mit gestanzten Blechplatten verkleidet, die Mauerwerk

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