Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)
Anspielungen auf einen Brief las, den er nie geschrieben hatte. Johannas Worte mussten in winzige Schnipsel zerrissen und bei Edith in der Toilette heruntergespült werden.
* * *
Als der Brief kam, der von dem Hotel berichtete, waren etliche Monate vergangen. Es war Sommer. Und Sabitha fing den Brief nur durch einen glücklichen Zufall ab, denn sie war drei Wochen lang fort gewesen, im Sommerhaus am Lake Simcoe, das ihrer Tante Roxanne und ihrem Onkel Clark gehörte.
Fast das Erste, was Sabitha sagte, als sie in Ediths Haus kam, war: »Iggi-iggi. Hier stinkt’s.«
»Iggi-iggi« war ein Ausdruck, den sie von ihren Kusinen aufgeschnappt hatte.
Edith schnupperte. »Ich rieche nichts.«
»Wie im Laden deines Vaters, nur nicht ganz so schlimm. Sie müssen’s in ihren Sachen mit nach Hause bringen.«
Edith besorgte das Offnen über Dampf. Auf dem Weg vom Postamt hatte Sabitha in der Bäckerei zwei Schokoladeneclairs gekauft. Jetzt lag sie auf dem Sofa und aß ihrs.
»Nur ein Brief. Für dich«, sagte Edith. »Arme alte Johanna. Allerdings hat er ihren ja gar nicht bekommen.«
»Lies ihn mir vor«, sagte Sabitha gottergeben. »Meine Hände sind voll klebriger Matsche.«
Edith las ihn hastig vor wie einen Geschäftsbrief und machte nach den Satzenden kaum eine Pause.
Ja, Sabitha, mein Schicksal hat einen anderen Lauf genommen, wie du siehst, bin ich nicht mehr in Brandon, sondern in einer Stadt namens Gdynia. Und nicht mehr bei meinem ehemaligen Arbeitgeber beschäftigt. Ich habe einen ausnehmend schweren Winter hinter mir mit meiner Brustschwäche, und sie, nämlich meine Arbeitgeber, meinten, ich müsste draußen unterwegs sein, selbst auf die Gefahr hin, dass ich mir eine Lungenentzündung hole, also kam es zu einem ziemlich heftigen Streit und wir beschlossen, uns zu trennen. Aber mit dem Glück ist das so eine Sache, und ausgerechnet um die Zeit bin ich in den Besitz eines Hotels gelangt. Es ist zu kompliziert, um es haarklein zu erklären, aber wenn dein Großvater was darüber wissen will, sag ihm einfach, ein Mann, der mir Geld schuldete, es aber nicht zurückzahlen konnte, hat mir stattdessen dieses Hotel überlassen. Und so sitze ich nun nicht mehr in einem Zimmer in einer Pension, sondern in einem Haus mit zwölf Gästezimmern, eben noch hat mir nicht mal das Bett gehört, in dem ich schlief, und jetzt besitze ich mehrere. Es ist etwas Wunderbares, am Morgen aufzuwachen und zu wissen, man ist sein eigener Herr. Es muss einiges in Ordnung gebracht werden, sogar ziemlich viel, und ich werde mich daranmachen, sobald es wärmer wird. Ich werde jemanden einstellen müssen, der mir hilft, und später werde ich einen guten Koch einstellen, damit ich neben der Schankstube ein Restaurant betreiben kann. Das müsste gehen wie warme Semmeln, da es in dieser Stadt sonst keins gibt. Ich hoffe, es geht dir gut und du machst deine Schularbeiten und gewöhnst dir gute Manieren an.
Alles Liebe
dein Dad
Sabitha fragte: »Hast du Kaffee?«
»Pulverkaffee«, sagte Edith. »Wieso?«
Sabitha sagte, im Sommerhaus sei immer Eiskaffee getrunken worden, und alle seien ganz verrückt danach gewesen. Sie sei auch ganz verrückt danach. Sie stand auf und kramte in der Küche herum, machte Wasser heiß und rührte Milch und Eiswürfel in den Kaffee. »Eigentlich brauchen wir dafür Vanilleeis«, sagte sie. »Hach, Eiskaffee ist einfach gigantisch. Willst du nicht dein Eclair?«
Gigantisch.
»Doch. Das ganze«, sagte Edith anzüglich.
So viele Veränderungen bei Sabitha in nur drei Wochen – in der Zeit hatte Edith im Laden gearbeitet, während sich ihre Mutter zu Hause von der Operation erholte. Sabithas Haut hatte eine appetitliche goldbraune Farbe, und ihr Haar war kürzer und um ihr Gesicht aufgebauscht. Ihre Kusinen hatten es geschnitten und ihr eine Dauerwelle gemacht. Sie trug eine Art Spielanzug in einer kleidsamen blauen Farbe mit Shorts, die wie ein Rock geschnitten waren, und mit knöpfbarem Oberteil und Rüschen auf den Schultern. Sie war rundlicher geworden, und wenn sie sich vorbeugte, um nach ihrem Glas mit Eiskaffee zu langen, das auf dem Fußboden stand, war ein glatter, rosiger Busenansatz zu sehen.
Brüste. Sie mussten zu wachsen begonnen haben, bevor Sabitha wegfuhr, aber es war Edith nicht aufgefallen. Vielleicht waren sie einfach etwas, womit man eines Morgens aufwachte. Oder eben nicht.
Auf welche Weise sie auch zustande kamen, Brüste waren Merkmale eines völlig unverdienten und unfairen
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