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Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Titel: Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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alles Make-up der Welt?
    Sie wusste nicht genau, wie krank er war, aber sie hatte Mrs Willets – auch eine starke Raucherin – bei deren Bronchitisanfällen gepflegt, und so meinte sie, noch eine Weile auskommen zu können, ohne einen Arzt zu holen. Im selben Flurschrank lag ein Stapel sauberer, wenn auch fadenscheiniger und verwaschener Handtücher, und sie machte eines davon nass und wischte ihm damit Arme und Beine ab, um das Fieber zu senken. Er wachte davon ein wenig auf und begann wieder zu husten. Sie stützte ihn und ließ ihn in das Toilettenpapier spucken, betrachtete es wieder prüfend und spülte es in der Toilette herunter und wusch sich die Hände. Jetzt hatte sie ein Handtuch, um sich abzutrocknen. Sie ging hinunter und fand in der Küche ein Glas sowie eine große leere Gingerale-Flasche, die sie mit Wasser füllte. Das versuchte sie ihm einzuflößen. Er trank einen Schluck, protestierte und durfte sich zurücklegen. Nach ungefähr fünf Minuten versuchte sie es wieder. Sie fuhr damit fort, bis sie überzeugt war, dass er so viel geschluckt hatte, wie er konnte, ohne sich erbrechen zu müssen.
    Immer wieder hustete er, und sie richtete ihn auf, stützte ihn mit einem Arm, während sie ihm mit der anderen Hand auf den Rücken klopfte, damit sich die Last in seiner Brust lockerte. Er schlug mehrere Male die Augen auf und schien sie ohne Angst oder Überraschung wahrzunehmen – allerdings auch ohne Dankbarkeit. Sie wischte ihn noch einmal kalt ab und achtete sorgfältig darauf, den Körperteil, den sie gerade gekühlt hatte, sofort wieder zuzudecken.
    Sie sah, dass es dunkel wurde, ging in die Küche hinunter und fand den Lichtschalter. Das Licht und der alte Elektroherd funktionierten. Sie öffnete eine Dose Hühnersuppe mit Reis, machte sie heiß, trug sie nach oben und weckte ihn. Er schluckte ein paar Löffel voll. Sie nutzte seine kurze Wachphase und fragte ihn, ob er eine Flasche mit Aspirin hatte. Er nickte, wurde aber ganz wirr, als er ihr sagen wollte, wo sie stand. »Im Mülleimer«, sagte er.
    »Nein, nein«, sagte sie. »Sie meinen nicht den Mülleimer.«
    »Im … im …«
    Er versuchte, etwas mit den Händen zu formen. Tränen stiegen ihm in die Augen.
    »Nicht so wichtig«, sagte Johanna. »Nicht so wichtig.«
    Sein Fieber sank jedenfalls. Er schlief eine Stunde lang oder länger, ohne zu husten. Dann wurde sein Körper wieder heiß. Doch inzwischen hatte sie das Aspirin gefunden – es lag in einer Küchenschublade zusammen mit solchen Dingen wie einem Schraubenzieher und Glühbirnen und einem Knäuel Schnur –, und sie brachte ihn dazu, zwei Tabletten zu schlucken. Bald danach bekam er einen heftigen Hustenanfall, behielt aber, so weit sie sah, das Aspirin bei sich. Als er sich wieder hinlegte, hielt sie das Ohr an seine Brust und horchte auf seinen pfeifenden Atem. Sie hatte schon nach Senf gesucht, um damit ein Pflaster zu machen, doch offenbar gab es keinen. Sie ging wieder hinunter und machte etwas Wasser heiß und trug es in einer Schüssel hoch. Sie half ihm auf, bis er sich darüber beugte, und breitete Handtücher über ihn, damit er den Dampf einatmen konnte. Er machte nur kurze Zeit mit, aber vielleicht half es – er hustete eine Menge Schleim aus.
    Sein Fieber sank wieder, und er schlief ruhiger. Sie zerrte einen Sessel herein, den sie in einem anderen Zimmer entdeckt hatte, und nickte auch ein, wurde immer wieder wach und wusste nicht, wo sie war, dann erinnerte sie sich und stand auf und fasste ihn an – das Fieber schien besänftigt – und deckte ihn zu. Um sich selbst zuzudecken, nahm sie den unverwüstlichen alten Tweedmantel, den sie Mrs Willets verdankte.
    Er wachte auf. Die Sonne stand schon hoch. »Was machen Sie hier?«, fragte er mit heiserer, schwacher Stimme.
    »Ich bin gestern angekommen«, sagte sie. »Ich habe Ihre Möbel mitgebracht. Sie sind noch nicht da, aber auf dem Weg. Als ich ankam, waren Sie krank, auch noch in der Nacht. Wie geht es Ihnen jetzt?«
    Er sagte: »Besser«, und fing an zu husten. Sie brauchte ihn nicht aufzurichten, er setzte sich von allein auf, aber sie ging zum Bett und klopfte ihm auf den Rücken. Als er fertig war, sagte er: »Danke.«
    Seine Haut fühlte sich jetzt so kühl wie ihre eigene an. Und glatt – keine rauen Leberflecke, kein Gramm Fett. Sie konnte seine Rippen fühlen. Er war wie ein zarter, anfälliger Junge. Er roch wie Mais.
    »Sie haben den Schleim heruntergeschluckt«, sagte sie. »Tun Sie das

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