Himmel und Hölle
kannte.
»Ja, das habe ich auch schon festgestellt. Deswegen bin ich ja nach Feierabend gleich zu Ihnen gekommen.« Eine gewisse Erfahrung bringe ich ja mit …
»Dann bleiben Sie gleich mal hier.«
»Das geht beim besten Willen nicht! Ich habe zwei Kinder unter VIER, und mein Mann ist geschäftlich in Berlin unterwegs. Mal ganz abgesehen davon, dass ich meine Praxis erst vor ACHT Wochen übernommen habe. Das Messing-Schild ›Frauenarztpraxis Dr. Konstanze Kuchenmeister‹ wurde erst gestern in den Vorgarten einbetoniert. Ich habe seit vier Wochen eine eigene Praxis. Da steppt der Bär!«
Jetzt hörte ich mich schon genauso an wie die vier-und dann fünffache Mutter aus dem sozial schwachen Milieu, die morgens um halb sieben mit dem Auto gekommen war.
»Sie müssen aber hier bleiben, Frau Kollegin. Wenigstens übers Wochenende. Ruhen Sie sich doch mal richtig aus.«
»Hahaha!«, sagte ich. »Selten so gelacht.«
»Frau Kuchenmeister! Sie erwarten Zwillinge! Und der Muttermund sieht ziemlich wild aus. Er ist überraschend derb, aber trotzdem nur noch eins Komma neun Zentimeter lang. Und ab zwei Komma fünf ist man akut frühgeburtsgefährdet!«
Ja, so sprach sie, die Kollegin. »Ziemlich wild.« Da hätten bei mir eigentlich alle Alarmglocken schrillen müssen. Bei anderen Schwangeren hatte ich einen
siebten Sinn. Aber bei mir selbst schien der nicht zu funktionieren.
Die Kollegin, die mich untersuchte, war wirklich sehr zuvorkommend. Sie machte sich Sorgen. Ich sollte auf keinen Fall aufstehen und nach Hause gehen. Genauso wäre ich auch mit jeder Schwangeren umgegangen. Nur nicht mit mir selbst.
»Meine Kinder warten schon auf mich. Ich habe versprochen, noch Schuhe mit ihnen kaufen zu gehen.«
»Frau Kuchenmeister, das ist jetzt unwichtig!«
Ja, solche Dialoge finden zwischen zwei Gynäkologinnen statt, besonders wenn sich die eine von beiden in einer liegenden Position befindet.
Natürlich war die Zervix überraschend derb, besonders für eine dritte Schwangerschaft: Das war der Tumor! Der ist immer derber als die normale Zervix. Und Aigner hätte das auch gemerkt. Wenn meine liebe Kollegin beim Aigner gelernt hätte, hätte sie das Gewebe untersucht und mindestens einen Pap-Test gemacht. Sie hätte darauf BESTANDEN. Auch eine Kolposkopie wäre im Pauschal-Service drin gewesen. Eine mikroskopische Untersuchung des Muttermunds. Aber weil ich mich selbst nicht so wichtig nahm und weil ich meinen zwei »älteren« Kindern gegenüber ein schlechtes Gewissen hatte, wollte ich so schnell wie möglich nach Hause. Ich wollte hören, dass der Muttermund noch zwei bis drei Wochen halten wird, und damit basta. Wie naiv ich doch damals in eigener Sache war, während ich meinen Patientinnen ein Dutzend
Mal ins Gewissen rede und sie eher einmal zu viel als zu wenig zu Martha Kreidl überweise!
Die Kollegin war auch Mutter. Sie kannte das schlechte Gewissen. Wir redeten über Schuhe. Bei Deichmann gab es jetzt ganz niedliche mit luftdurchlässiger Sohle im Ausverkauf. Wir schoben das Problem beide beiseite.
Bei Professor Aigner wäre so etwas nie passiert. Der hätte mit mir nie über Schuhe geredet. Der hätte mich ans Bett gefesselt und mir dermaßen ins Gewissen geredet, dass ich auf der Stelle die Dringlichkeit weiterer Untersuchungen begriffen hätte.
Aber mit Aigner war ich verkracht.
»Stefan! Ich sterbe hier vor Langeweile im Krankenhaus! Es ist so ungerecht, dass ich schon wieder liegen muss!«
»Da musst du jetzt durch. Du hast noch drei Wochen, also nutze sie.«
»Bitte bring mir Bücher!«
»Konstanze, gern, aber es gibt Dringenderes zu organisieren: Wir haben zwei kleine Kinder, deine Praxis, für die wir dringend eine Vertretung engagieren müssen, und meine Geschäfte mit der Expansion im Einzelhandel. Ich habe hundert Themen um die Ohren, und man löchert mich mit Fragen über die Baunutzungsverordnung, über Verkaufsflächen und Standortgutachten!«
»Ja«, seufzte ich. »Ich weiß. Es kommt wieder alles auf einmal!«
»Hast du eine Idee, wen ich für die Praxisvertretung engagieren kann?«
»Girtz vielleicht?« Ich verdrehte die Augen. Dabei tat mir der Schambeinbogen so weh! »Stefan, ich kann mich nicht mehr rühren! Weder auf dem Rücken noch auf der Seite halte ich es länger als eine Minute aus, und auf dem Bauch liege ich, glaube ich, erst im nächsten Leben wieder …«
»Sei tapfer, Konstanze! Denk an unsere wunderbaren Kinder. Bald sind es vier. Nur noch drei Wochen. Du
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