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Himmel und Hölle

Titel: Himmel und Hölle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hera Lind
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mich einen schicken Blazer.« Sie tat so, als ob es kein spannenderes Thema gäbe.
    »Anja. Weißt du, was du mich mal kannst?«
    Anja hielt ihre nassen Hände von sich ab und sah so
aus, als wollte sie sagen: »Nicht schießen!« Dann kam sie plötzlich auf mich zu und sah mich mit bebenden Lippen an. Mit einem Schluchzen fiel sie mir um den Hals.
     
    Am nächsten Morgen rief mich Anja in der Praxis an.
    Ich hatte gerade alle Hände voll zu tun, vor mir lag eine Patientin mit vorzeitigen Wehen, das Wartezimmer war brechend voll, und Nicole kam mit dem Kinderwagen herein, aus dem es zweistimmig brüllte.
    Mein Busen tropfte, die Still-Hormone zerrissen mich. Mir war so schwindelig, dass ich mich gegen die Wand lehnen musste. Mein Trommelfell flatterte. Wahrscheinlich Tinnitus.
    »Sag es einfach«, bellte ich statt einer Begrüßung in den Hörer.
    »Positiv.«
    »Was sagtest du noch, kriegt man gerade so günstig bei H&M?« Meine Hand, die den Hörer hielt, wurde plötzlich so kalt, dass ich glaubte, sie würde abfallen.
    »Blazer … und Sommerkleidchen für Mädchen. Es tut mir so leid, Konstanze! Es tut mir so leid! Es tut mir so leid, Konstanze!«
    »Meinst du, dass sie auch Badehosen für kleine Buben haben?« Meine Stimme versagte. Ich wollte noch witzig sein.
    Nicole, die gerade den ersten Zwilling aus dem Kinderwagen pflückte, schaute mich erstaunt an.
    »Grüß den Aigner von mir!«, flüsterte Anja und legte auf.

    Ich schloss die Augen, versuchte ganz ruhig durchzuatmen. Ich sah Stefans Gesicht vor mir, hörte seine Stimme: »Du bist stark, Konstanze. Handle. Sei ganz bei dir. Zum Heulen hast du keine Zeit.«
    »Wir müssen jetzt mal ganz schnell wohin«, teilte ich der überraschten Nicole mit.
    »Zu H&M?«, jubelte sie kindlich überrascht. »Aber Sie haben das Wartezimmer voll!«
    »Manchmal gehen die Sonderangebote eben vor!«
    Ich setzte mein schreiendes Zwillings-Töchterchen Charline ungestillt, wie sie war, zurück in den Kinderwagen und gab meiner treuen Arzthelferin ein Zeichen: »Kann länger dauern!«
    Meine gute Fee, Brigitte, stand wie eine deutsche Eiche an der Rezeption und nickte mir verständnisvoll zu. »Machen Sie’s gut!«
    Wir quetschten uns allesamt durch die Beifahrertür in den alten Volvo. Während Nicole am Steuer saß, pflückte ich die Zwillinge aus ihren Sicherheitsschalen und stillte sie auf dem Beifahrersitz. Alle beide. Gleichzeitig. Wir waren alle drei nicht angeschnallt. Natürlich ist das verboten und gehört strafrechtlich verfolgt, aber das interessierte mich in diesem Moment nicht die Bohne.
    »Wir fahren in die Klinik zu Professor Aigner«, teilte ich ihr mit. »Gib mal Gas.«
    Nicole sah mich von der Seite an. »Wir fahren nicht zu H&M?«
    »Bei mir besteht Verdacht auf Gebärmutterhalskrebs.«

    Nicole drückte auf die Tube. »In Ihre alte Klinik? Wo Sie gekündigt haben?«
    »Ja.«
    »Zu Ihrem alten Professor?«
    »Ja.«
    »Der nicht mehr mit Ihnen redet, und dem Sie versprochen haben, nie wieder unter die Augen zu treten?«
    »Fahr schon!«
    Nicole musste sich beherrschen, um weiterhin die Kontrolle über das Fahrzeug zu behalten. Ängstlich fragte sie: »Wie ernst ist es, Frau Kuchenmeister?«
    »Das wird sich in den nächsten zwei Stunden herausstellen.«
    Es war Freitag. Ich versuchte, auf meine Armbanduhr zu schauen, was gar nicht so einfach war. Die Zwillinge schmatzten behaglich. Ihre kleinen Händchen hatten sich in meine Brüste gegraben. So, als wollten sie mich nie wieder loslassen.
    »Der Chefarzt der Frauenklinik ist noch bis zwölf Uhr im Haus. Danach ist Rotariertreffen und anschließend Klinikkonferenz. Gib mal Gas jetzt!«, trieb ich Nicole zur Eile an.
    »Frau Kuchenmeister, ich hab das Pedal bereits durchgetreten …« Nicole war völlig durch den Wind.
    »Dann fahr auf den nächsten Parkplatz!«
    Ich nahm die Zwillinge vom Busen, stopfte sie in ihre Maxi-Cosis und schnallte sie an. Natürlich brüllten sie sich die Seele aus dem Leib, aber das war mir egal. Ich wusste, dass ich MICH retten musste, um SIE zu retten.

    Nicole bretterte heulend auf den nächsten Parkplatz und brachte den Wagen zum Stehen.
    »Rutsch mal!«
    Plötzlich erinnerte ich mich an jenen Moment vor dem Schwesternwohnheim in London. Stefan hatte »Rutsch mal« gesagt. In genau demselben Ton. Als er das Steuer übernommen hatte.
    Das Steuer meines Lebens.

26
    »Professor Aigner?«
    Vorsichtig steckte ich den Kopf zur Tür herein. Der kalte Schweiß stand mir im Gesicht.

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