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Himmel und Hölle

Titel: Himmel und Hölle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hera Lind
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Hatte ich geklopft? Wenn ja, dann hatte ich es nicht bemerkt.
    Nicole saß mit den Zwillingen draußen auf dem Gang und schuckelte am Kinderwagen.
    Meine Beine hatten aufgehört zu schlottern. Als ich ihn sah, wurde ich plötzlich ganz ruhig. Es fühlte sich an, wie nach Hause zu kommen. Aber auch gruselig, so den Tod schon vor Augen. Beerdigung, Ende, aus. Ich hatte nichts mehr zu verlieren. Auch keinen Stolz. Vielleicht noch meine Würde.
    »Ich bin’s, Konstanze Kuchenmeister!«
    Der Professor saß an seinem Schreibtisch und las ein Fax.
    Würde er mich überhaupt empfangen? Würde er überhaupt ein Wort mit mir reden?
    Genau in diesem Zimmer hatten Stefan und er sich angebrüllt, als ich unbedingt die Praxis von Dr. Thaler hatte übernehmen wollen. In diesem Zimmer waren bittere Worte gefallen. In diesem Zimmer hatte ich ihm versprochen, er würde mich nie wiedersehen.
    Schon der Gang dorthin war schrecklich gewesen,
der reinste Gang nach Canossa: Überall auf den Fluren und im Aufzug hatten frühere Kollegen und Schwestern sich tuschelnd gegenseitig in die Rippen gestoßen. »Guck mal, wer da kommt!«
    »Dass die sich noch hertraut!«
    »Na, die hat Nerven!«
    »Vielleicht kriegt sie diesmal Drillinge?«
    Ich war mit stoischem Gesichtsausdruck an ihnen vorbeigerannt, meine heulende Nicole und die noch lauter heulenden Zwillinge im Kinderwagen im Schlepptau.
    »Kommen Sie rein!« Der Professor winkte mich an seinen Schreibtisch.
    Ohne dass er mir einen Platz angeboten hatte, sank ich auf den Stuhl.
    »Wie geht es Ihnen?«, eröffnete der Professor das Gespräch. Er sah mir direkt in die Augen.
    Es war, als wäre nie etwas Negatives zwischen uns vorgefallen. Ich konnte seinem Blick standhalten. »Das möchte ich Sie fragen.«
    Mit einem Blick auf das Fax, das er gerade vor sich hatte, stellte ich fest, dass er bereits im Bilde war.
    Ich erkannte den Praxisbriefkopf von Anja.
     
    Es war ein erniedrigendes Gefühl, untenherum nackt auf diesen Stuhl zu steigen und die Beine in die Eisenhalter zu legen. Sie waren eiskalt. Ich konzentrierte mich darauf, in die Augen von Professor Aigner zu schauen, in denen sich meine Scheide spiegelte.
    Er spreizte sie mit den Spekula: Das sind diese Eisenlöffel,
die im Innern der Scheide richtig wehtun können. Jede Frau, die jemals bei einem Frauenarzt war, kennt das Gefühl. Die Pupillen meines erfahrenen Untersuchers verengten sich. »Das sieht ja ganz schön wüst aus«, murmelte er.
    Ich konzentrierte mich auf jede Falte und jede Furche in seinem Gesicht, auf jedes Haar seiner Augenbrauen. Das ist nicht gut, nichts ist gut, ging es mir durch den Kopf. Nichts wird je wieder so sein, wie es einmal war.
    Professor Aigner hob den Kopf und sah mir ins Gesicht. »Wir machen eine Knipsbiopsie.«
    »Chef, ich weiß es schon. Sie brauchen es jetzt nicht mit der Hinhaltetaktik zu ver…«
    »Würden Sie bitte den Mund halten?«, herrschte er mich an, und seine Stimme bebte. Er versenkte sich wieder in den Anblick meines Gebärmutterhalses. Das grelle Licht aus der OP-Lampe schien erbarmungslos auf den Tumor. Die Augen des Professors starrten unentwegt auf dieselbe Stelle.
    Draußen brüllten sich die Zwillinge schier um den Verstand. Man hörte sie durch die geschlossene Tür.
    »Wie heißen sie denn?« Der Chef starrte auf meine zerklüftete Zervix und konnte es einfach nicht fassen, dass ich es so weit hatte kommen lassen. Dass ich nicht vorher den Mut gefunden hatte, zu ihm zu kommen.
    »Charline und Carlos.« Ich wusste, dass er mir gar nicht zuhörte.
    »Schöne Namen.« Der Professor zog seine Gerätschaften
aus meiner Scheide. »Ich muss gleich weg. Aber um Sie kümmere ich mich noch.«
    »Danke, Professor.« Wackelte meine Stimme etwa? Mir saß ein so dicker Kloß im Hals, dass ich gar nicht wusste, ob ich überhaupt einen Ton herausgebracht hatte.
    »In zehn Minuten wissen wir es genau. Ich mache einen Schnellschnitt …«
     
    Kurz darauf saß ich auf dem Gang und stillte die Zwillinge. Ich war wie weggetreten. Mein ganzes Leben lief vor mir ab: Jugend und Hochzeit in Hamburg, das Studium, die endlosen Nächte bei Notdiensten, Stefans Unfall, die Geburten, die sechs Umzüge, das hektische, aber erfüllte Leben, meine Kinder, die nach mir weinten, meine Patientinnen in der Praxis, das Strahlen, Freuen, Weinen und Leiden, die Neugeborenen, die Sterbenden - Himmel und Hölle.
    Nicole hatte inzwischen aufgehört zu heulen. Offensichtlich war ihr die harte Schule Stefans schon in

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