Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Himmelreich

Himmelreich

Titel: Himmelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf Dobelli
Vom Netzwerk:
nichts am Horizont, was mich in irgendeiner Weise drängen würde, ich setze mich wieder auf die Treppe vor der Kirche. Unterdessen ist die Sonne hinter dem Bergrücken verschwunden. Bald ist auch der Treppenstein kalt.
    Ich frage mich angesichts der Dauer dieser Beichte, was Josephine sonst noch vorhat mit mir - Bankraub, internationaler Waffenhandel oder gar einen Mord?
    Der Espresso im Cafe gegenüber ist heiß, ich verbrenne mir die Zunge. Irgendein Lümmel spielt am Glücksspielautomat, schlägt die ganze Zeit an die Kiste, während die Rädchen mit den Kirschen und Pflaumen rotieren. Der Barmann sagt kein Wort. Er trocknet Gläser, die er einzeln dem Geschirrspüler entnimmt. Die einzige Straßenlaterne des Platzes jetzt in voller Produktion, auch die Scheinwerfer, die den Kirchturm beleuchten. Ich klopfe mit einer Münze auf den Tresenzink, damit die Zeit schneller vergeht. Vor dem Eingang zur Kirche dann mein letzter Versuch, mir Geduld einzureden. Er mißlingt. Ich entschließe mich, Josephine aus diesem Beichtstuhl zu reißen, notfalls mit Gewalt. Aber sowohl das Hauptportal als auch die Türen zu den Seitenflügeln sind abgeriegelt. Ich trommle an die Türen wie der Lümmel an den Glücksspielautomat. Nichts rührt sich. Ich kicke mit den Schuhen ein hundertstes Mal gegen die Kirchentür zum Beweis, daß ich nicht träume. In dem Moment fährt ein roter VW-Bus vor, hupt, ich solle einsteigen, Josephine, sie ruft mir über die Straße zu, in einem Ton, als hätten wir uns jahrelang nicht mehr gesehen, dabei winkend. Josephine wie ein Schmetterling. Wir verlassen Andorra durch das Gran-Valira-Tal. Richtung Spanien. Es ist spät.
    Time to Destination: 3 Hours 38 Minutes.
    Das Fliegen hatte sich der Mensch anders vorgestellt, als neun Stunden lang eingepfercht in einer Röhre auszuharren, umgeben von schlechter Luft und schlechter Gesellschaft, beleidigt zu werden durch wattiges Brot und zickige Flight Attendants. Engelgleich hatte sich der Mensch das Fliegen vorgestellt: Arme weit ausgebreitet. Die Fingerspitzen wie Antennen oder wie Härchen, die kleinsten Verwirbelungen erspürend. Dann langsame Schwingbewegungen mit den Armen, sachte beschleunigend, die Luft als Widerstand auskostend. Wie die Beine leichter werden, die Füße, wie man plötzlich auf den Fußspitzen steht ohne Aufwand, und dann - wie der Boden langsam davongleitet, noch einen letzten Grashalm streifend, die Käfer, die Steine, alles gleitet weg, die Füße in der Luft pendelnd, man hebt ab, Baumwipfelhöhe, bald über den Dächern und Türmen, kreisend, dann weiter steigend, wie die Bäume einzeln zu dunklen Punkten verdampfen, sich allmählich zu Wäldern massieren, die Stadt, ein See, schmal wie ein Strom, glitzernd, Gebirge in der Ferne. Der Traum von der vollständigen Koordination zwischen Denken, Körper und Welt. Dieselbe Leichtigkeit beim Sinken - das Sinken ein Segeln, mühelos, die Arme ausgestreckt, feinste Abstimmung über die Hände und über die Fingerspitzen. Wie alles wieder größer wird, die Stadt, die Dächer, die Bäume, und wie einem der ersehnte Landeplatz zufliegt, das Abbremsen in der Luft, die erste Berührung mit einem Grashalm, das Aufsetzen der Fußspitzen, und plötzlich steht man auf dem Boden und zieht die Arme ein.
    So oder so ähnlich hatten es sich wohl auch Ikarus und Daedalus vorgestellt.
    »Es war das große Verdienst der Gebrüder Wright, zu erkennen, daß ein Flugzeugflügel starr sein muß - ganz im Gegensatz zu den Flügeln der Vögel. Sie haben keine Vorstellung, wie viele Jahrzehnte die Ornithologie die Aviatik gekostet hat.«
    Ich weiß nicht, wie mein Sitznachbar auf die Fliegerei gekommen ist, das heißt, natürlich ist es sein Thema, aber ich verstehe nicht, wie es ihm gelingt, meine Gedanken so problemlos zu übernehmen.
    »Mindestens dreißig Jahre hat uns das gekostet. Nur weil man immer gedacht hat, ein Flugzeug müsse mit den Flügeln schlenkern, um in der Luft zu bleiben.«
    Ich bin froh über soviel geschichtlichen Hintergrund.
    »Dreißig Jahre. Stellen Sie sich vor: dreißig Jahre früher die Überquerung des Atlantiks, dreißig Jahre früher auf den Mond, dreißig Jahre modernere Flugzeuge heute.«
    Nächstes Mal kaufe ich zwei Flugtickets: eines für mich und eines, damit der Sitz neben mir frei bleibt.
    Ich frage mich, wie man sich Engel vorzustellen hat, respektive ob die Engel nicht viel mehr schweben als fliegen, ob ihre Flügel nichts anderes sind als Zier oder ob sie

Weitere Kostenlose Bücher