Himmelreich
Champagner - Dom Perignon, den teuersten -, machten sie an der Reling fest und schmetterten sie, gemeinsam, Josephine und ich, an den Rumpf. Sie zerschlug erst beim dritten Anlauf.
Die Leute um uns herum, Touristen auf ihren Abendspaziergängen am Hafen, die Nachbar-Crews, die Einheimischen, dachten wohl, wir wären übergeschnappt. Von da an hatte NOVACASA eine Beule im Rumpf, nichts Gefährliches, sondern etwas Menschliches, fanden wir, eine Art Muttermal.
Später an jenem Abend, es war nach Mitternacht, und die meisten Crews schliefen schon, erblickten wir im Hafen eine chilenische Motorjacht. Kein Licht war an. Josephine kletterte hoch, barfuß und gelenkig wie ein Äffchen, entriß ihr die chilenische Flagge und befestigte unsere portugiesische. Von da an war ISLA 130 offiziell ein chilenischer Hafen.
Anderntags, in aller Herrgottsfrühe, aber nicht bevor wir noch einen ganzen Lebensmittelladen samt Kassenbestand ausgeraubt haben, verlassen wir Fuerteventura im Uhrzeigersinn, also zuerst nach Süden, dann nach Westen. Es ist ein Tag mit winzigen, kleinen, paffigen Wolken. Wolken wie aus einer Spraydose. Kein Land mehr in Sicht. Kein Land mehr für Tage. Kein Land mehr für Wochen.
Wind, Sonne, Glitzer, das gleichmäßige Schlagen von Schoten. Das Rauschen, wenn der Bug eine Welle zerschneidet, dann einen Augenblick lang Stille, als würde das Boot Atem holen, dann die nächste Welle, eigentlich rauscht es immer, man hört es gar nicht mehr. Spritzer, je nachdem, woher der Wind kommt. Auch sie spürt man mit der Zeit nicht mehr, es sei denn, es spüle kübelweise, was selten passiert. Meist sind es Wasserkügelchen, Mini-Ozeane im Perlenformat, die auf die Haut fallen, sich dort aufgeben und Salzkrusten hinterlassen. Manchmal lege ich mich neben Josephine hin und lecke ihr die Salzkrusten von der Haut. Ich bin selig. Josephine liegt auf Deck, nackt, den Kopf auf den zerfledderten Ulysses gelegt, dösend. Manchmal wacht sie auf, dreht sich auf die Seite oder auf den Bauch, zieht das Buch unter ihrem Kopf hervor, blättert darin, liest einen Satz oder ein Wort - so genau weiß ich das nie -, schaut auf, als sei hinter dem Horizont der nächste Satz zu finden oder das nächste Wort, legt ihren Kopf auf ebendiese Stelle und döst weiter. Sie kann tagelang an einem einzigen Satz lesen.
Was ich denke: Unmöglich, daß ein so schlankes, ein so bewegliches Geschöpf dieselbe Menge an Organen enthält wie ein ausgewachsener Mann. Was ich auch denke: Es wird unmöglich sein, sich je wieder in Kleidern zu begegnen.
Egal welche Vorgeschichte, man wird zum Punkt auf dem Atlantik. Nie hat man so etwas wie einen Gott nötiger gehabt. Dabei funktioniert alles einwandfrei, das Segel, das Ruder, der Kompaß, der Richtungshalter. Die elektrischen Schalter schalten mit derselben Präzision wie auf dem festen Grund. Kajütenlicht ein. Kajütenlicht aus. Selbst die Wellen halten sich an die Abmessungen des Schiffs. Den Stürmen begegnen wir nicht durch hektische Aktivität auf Deck, sondern durch Schweigen tief unten in der Nußschale. Das Heulen des Mastes über uns. Überhaupt gewinnt das Schweigen mitten auf dem Atlantik eine mystische Qualität, als könnten die Gedanken, die man während des Schweigens denkt, das Schicksal beeinflussen. Schicksal - welchen Wert, welche Feierlichkeit dieses Wort erst hier draußen erhält. Schicksal, das gibt es eigentlich erst auf dem Meer. Wir müssen es uns nicht sagen, wir denken es beide: Wenn wir absaufen würden, es wäre ein schönes Ende.
Abendrot in Zürich: das ist in Mehl getauchtes Rot, mehr Stimmung als Farbe, mangelhafte Grundierung. Abendrot auf hoher See: kein billiges Abschmieren, sondern ein königliches Zubettgehen. Ganz nahe am Horizont wird aus der Kirsche eine Orange. Sie holt noch einmal Luft, bevor sie abtaucht. Wüßte man nicht um die Erdrotation, man müßte annehmen, die Sonne würde sich wie ein Maulwurf durch die Erde graben, um anderntags wieder aufzusteigen. Reizvoll: der Wechsel vom Rot zum Blau zum Schwarz. Reizvoll darum, weil Rot und Blau an gegenüberliegenden Enden des Spektrums liegen. So hat es sich die Natur ausgedacht. Jetzt muß sie jeden Abend das Kunststück vollbringen, Kontinuität aus Gegensätzen zu erzeugen.
In der Nacht ein Firmament, als wären die Sterne Löcher, durch die das Feuer einer anderen Welt fällt. Man fühlt sich beobachtet von diesen Sternen und, je nach Stimmung, beschützt oder bedroht. In jeder Nacht sehe ich die Engel
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