Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Himmelreich

Himmelreich

Titel: Himmelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf Dobelli
Vom Netzwerk:
noch eine Hunderternote über den Tisch, damit ihn unsere Pässe nicht interessieren. Auf der Terrasse mit Blick über die Lichter der Stadt - die Praca Marques de Pombal, die Avenida da Liberdade, das in warmes, orangefarbenes Scheinwerferlicht getauchte Castelo de Sao Jorge -Austern, dann St. Pierre auf einem mit Olivenstücken durchsetzten Basmati-Reisbett, dazu ein La Tour 1995. Portugal, diese phantastische Sackgasse Europas. Cape Canaveral des 15. Jahrhunderts. Großartig, diese Stadt. Die Nacht ist warm und sanft und duftig wie eine Liebkosung. Ich öffne die Manschettenknöpfe und kremple die Ärmel hoch. Wind auf meinen Armen. Frühling. Ich bin selig.
    »Wir rennen der Wirklichkeit davon«, sage ich, dabei fasse ich über den Tisch hinweg ihre Hand und beginne, die Stelle zwischen Daumen und Zeigefinger zu massieren, eine der feinsten ihres Körpers, finde ich. Ich war hingerissen von der Romantik dieses Abends, mag sein, des Sonnenuntergangs, der Sicht auf die prächtige Stadtanlage des Marques Pombal, der Leichtigkeit unserer Reise, der Leichtigkeit unserer Liebe, dieses Spiels, das niemals den Anspruch erhob, ernst genommen zu werden, keiner wußte, wieviel daran Spiel war und wieviel Ernst, und keinen interessierte es, ich war gerade dabei, nach Worten für einen zweiten Heiratsantrag zu suchen, und hätte sie auch gefunden - wenn nicht plötzlich Renfer aufgetaucht wäre und hochmutig wie ein Flaneur, aber ein bißchen abgekämpft und dadurch schlurfend zu einem weiten Bogen um die Terrasse angesetzt hätte. Renfer, kein Zweifel, das war er.
    »Küß mich!« befehle ich, und so fallen wir uns beide über den Tisch hinweg in die Arme, wir küssen uns so berauscht, so unanständig wie noch nie, wir verlieren uns gegenseitig in den Kleidern, in den Haaren, unsere Gesichter verschmelzen, ab und zu kippt ein Glas um oder fällt vom Tisch und zerspringt, auch die Flasche La Tour fällt um, läßt den erstklassigen Rotwein über das Tischtuch rieseln, rollt über die Tischkante und klirrt auf dem Boden. Nein, so kann keine Entführung aussehen, so nicht! Nie ist Leidenschaft erregender als im Angesicht von Gefahr.
    Als wir uns endlich aus der Umarmung lösen, Totenstille. Was zu sehen ist: eine Schweinerei auf und unter dem Tisch, Wein auf meinen Hosen, auf ihrem Rock, in meinen Schuhen. Noch tropft es wie Blut vom Tischtuch. Alle wie versteinert - die Kellner, die Gäste an den anderen Tischen, der entgeisterte Chef de Service. Renfer jetzt hinter einer Reihe von Kellnern, die sich wie ein Cordon vor ihm aufgepflanzt haben, »Himmelreich, geben Sie auf«, ruft er zwischen dem erstarrten portugiesischen Servierpersonal hindurch, »geben Sie auf!«. Aber niemand läßt ihn durch, als müßte das Bild, das wir hier abgeben, noch eine Weile lang Bestand haben, als müßte der Wein noch stundenlang vom Tisch tropfen, als müßte die Stille noch eine Nacht lang andauern, als müßte dieses Stilleben eingerahmt und ins Museo Nacional de Portugal gehängt werden. Nur das dumpfe Grollen des Verkehrs weit unten. Wir beschließen die Flucht. Wohin? Wir beraten nicht lange. »Zum Hafen«, flüstert sie mir ins Ohr. Wir springen auf und rennen zum Hotel hinaus - wir schießen durch die Hotellobby und lassen ein versteinertes Publikum auf der Terrasse zurück.
    Statt Fährhafen hat der Taxifahrer Jachthafen verstanden. Mitternacht. Der Mond auf den anrollenden Wellenbuckeln. Stille. Nur das Schlagen der Masten im Wind. Gurgeln zwischen den Schiffsrümpfen. So stehen wir verlassen, erschöpft und ohne Gepäck am Ende eines Kontinents.
    Plötzlich Scheinwerfer.
    Ein Auto - es könnte, den Lichtern nach zu schließen, ein BMW sein - langsam daherkriechend. Seine Scheinwerfer streifen das Häuschen des Jachtclubs, die Bootstankstelle - Shell Marine in leuchtendem Rot und Gelb -, dann jeden Masten einzeln. Wir rennen auf den Steg hinaus, ducken uns, als uns der Lichtkegel erwischt; und als der Lichtstrahl wegschwenkt, rennen wir weiter. Plötzlich bleiben die Scheinwerfer stehen. Sprung ins nächste Boot.
    Das Quietschen des Tors zur Hafenanlage. Schritte auf den Metallplatten. Sie kommen näher.
    Wir verkriechen uns in den Bauch des Schiffs und schließen das Cockpit von innen ab. Grabesfinsternis.
    »Keine Bewegung«, flüstere ich in die Dunkelheit hinein. Josephines zitternder Atem.
    Draußen Schritte.
    Das Quietschen der Metallplatten auf den Wellen. »Ergeben Sie sich, Himmelreich. Ich weiß, daß Sie hier sind! Sie

Weitere Kostenlose Bücher