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Himmelreich

Himmelreich

Titel: Himmelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf Dobelli
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nie so kompetent gefühlt wie jetzt in New York. Ich liebte sie, die Amerikaner, als Angestellte. Nach außen: kämpferisch, furchtlos, anpackend. Sie sprühten vor Ideen. Nichts, was sie ihrer Karriere nicht zu opfern bereit gewesen wären. Jeden zusätzlichen Dollar, den sie verdienten, gaben sie sofort wieder aus, was sie nur um so empfänglicher für die steigenden Anforderungen des Geschäftsalltags machte. Sie waren, in einem Wort, Schäfchen im Wolfspelz. Meine Leistungen als CEO in New York blieben nicht unbeachtet. Je schlechter sich die Konjunktur in Europa entwickelte, desto besser standen wir da. Plötzlich war New York ebenso wichtig geworden wie unsere Filialen in London, Zürich oder Frankfurt. Keine Woche verging, ohne daß sich der eine oder andere Aufsichtsrat persönlich bei mir meldete und sich für meinen Einsatz in New York bedankte. Meine Boni häuften sich - eine Million nach sechs Monaten -, und die Aussicht auf den CEO-Job des gesamten Konzerns wurde mir, wenn nicht explizit angeboten, so doch zumindest indirekt zugesichert.
    Nach einem Jahr die Scheidung.
    Auf den Tag genau ein Jahr nach meiner Ankunft in New York. Per eingeschriebenen Brief. Anna spielte nicht selbst Scheidungsanwalt, sondern übergab die Angelegenheit einem ihrer Kollegen bei Ladner & Partner. Ich stand vor dem aufgefalteten Brief wie vor einem Todesurteil. Ich rief sofort an. Sie war gerade in einer Sitzung, und ihre Sekretärin vertröstete mich auf später. Ich konnte es nicht wahrhaben. Ich zitterte. Ich war bestürzt, wirr, fassungslos. In meinen Venen pulsierte flüssiges Blei. Ich war wütend, nicht auf sie, sondern auf mich, auf meine Art, unsere Ehe als die selbstverständlichste Sache der Welt zu betrachten. Ich zerriß den Brief in tausend Fetzen und verließ das Büro.
    Draußen fegte ein letzter Winterwind durch die Straßen (obwohl es schon April war). Himmel wie Schiefer. Zeitungen flatterten zusammen mit Papierservietten, Plastikfolien und anderem Abfall durch die Luft. Dampf quoll dick und gallig aus den Subway-Schächten. Der Wind löste ihn in hundert Fäden auf. Ich stürzte Whisky um Whisky hinunter. Ich saß in der Plaza-Bar und schaute über die 59. Straße hinüber in den Central Park: die Aufregung in den Baumkronen. Vögel auf unkontrollierten Flugbahnen. Kinder, die Drachen steigen ließen, sich an die Leinen hängten und daran zogen, bis die Drachen heruntersausten, kopfüber, und im Gras zerschellten. Dazu drei Geiger im Hintergrund, Mozart, alles sehr schwülstig, Hotellobbykitsch. Ich saß da und zerbrach mir den Kopf. Zur abgemachten Zeit ging ich zurück in mein Büro. Ich kam mir vor wie ein angeschossenes Tier. Ich hatte zuviel getrunken. Als ich eintrat, klingelte das Telefon.
    Offenbar hatte sie von der Affäre mit Josephine erfahren.
    Ich tat so, als wüßte ich von nichts.
    »Du Feigling!«
    Natürlich hatte sie recht.
    Nochmals: »Feigling!«
    Ich zeichnete mit meinen Fingernägeln Kurven in den neuesten Strategiebericht.
    »Lügner!«
    Ihre Stimme war Metall.
    »Ich hätte es wissen müssen - deine Leichtigkeit damals, deine endlose Begeisterungsfähigkeit über die kleinsten Dinge, die Wolken, das Glitzern des Sees, all diese Aufmerksamkeit, zum Beispiel für den Regen, den langweiligsten Landregen, den du auf einmal als großartiges Spektakel empfunden hast, all die neuen Hemden, rosa, auf einmal rosa, nicht unpassend, aber modisch, sehr modisch, dein plötzliches Interesse für Literatur, für James Joyce, der noch immer auf dem Schlafzimmertischchen liegt, zusammen mit den anderen Wälzern - Romane, mein Gott! -, deine neue Frisur, längere Haare auf einmal, es mußten längere Haare sein, in deinem Alter, mit deinem Haarwuchs, in deiner Position. Wenn das keine Zeichen gewesen sind.«
    Am besten ging es mit dem kleinen Fingernagel. Der grub sich ins Papier wie ein winziger Pflug.
    »Ich habe versucht, diese Hofer zu treffen. Ein Gespräch von Frau zu Frau. Ohne Erfolg. Die Dame scheint sich absichtlich rar zu machen.«
    Ich korrigierte: »Hofmann.«
    »Offenbar seit Monaten irgendwo in Spanien oder Portugal verschollen, sagt man mir in der Buchhandlung.«
    Ich zerriß das Strategiepapier.
    »Man spricht von Entführung.«
    Ich zerriß es der Länge nach, faltete es nochmals und zerriß es in die Quere, dann ließ ich die Schnipsel mit einer Hand in den Papierkorb regnen.
    »Es tut mir leid«, sagte ich, und dann nochmals: »Es tut mir leid.«
    Etwas Besseres fiel mir nicht

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