Himmelreich
schlafend.
Sie war eingenickt. Die Falten ihres lippenstiftroten Sommerrocks flatterten im Wind, ihr Haar flammend wie Kupfer. Der Balkonsessel leicht schräg gestellt, so daß ich sie mehr von hinten als von der Seite sah. Es fiel mir nicht leicht, zu akzeptieren, daß dies Anna war, meine Frau oder Exfrau, je nachdem, wie man es interpretierte. Wo ihre Haut an die Luft kam, gingen Sommersprossen auf. Ein Bein war übers andere geschlagen. Die in schimmernden Strumpfhosen eingezwängten Zehen lehnten sich aneinander, als schliefen sie ebenfalls. Ein Arm hing schlaff über den Rand des Stuhls, durch sein Gewicht an der Liegestuhlkante leicht abgeknickt, Wachs mit Sommersprossen, die Finger eingerollt, aber nicht zur Faust, sondern so, daß der Wind gerade noch drin Platz hatte. Der verfärbte Abendhimmel unterlegte ihre Haut mit einem zarten Violett, das an abgelutschte, durchsichtige Bonbons erinnerte. Den anderen Arm sah ich nicht. Was ich sah: eine sich verhalten hebende und senkende Brust, und Haar, langes, kräftiges Haar, das sich wie Ranken in allen Richtungen über das Kleid und über die Rückenlehne des Liegesessels tastete. Eigentlich sah man bloß die gegen sich selbst gekehrten Fußspitzen, ein Stück lippenstiftroten Stoff, einen Arm und schließlich das Kupferbüschel. Sehr wenig Haut. Kein einziges Stück Hals, kein Gesicht, nicht einmal eine Nasenspitze. Die Perspektive ließ es nicht zu. Ihr Gesicht gehörte der Stadt. Zwischendurch zupfte der Frühlingswind am Stoff herum, dann kam etwas Bein hinzu. Ansonsten blieb es bei einer abstrakten Komposition. Noch nie hatte ich sie so gesehen, und für einen Moment zweifelte ich an dem Gedanken, daß es jene Frau war, mit der ich vor mittlerweile fünfzehn Jahren ein gemeinsames Leben beschlossen hatte.
Als der Himmel sich verdunkelte und die Nacht heranschlich, als die violetten Schlieren über den Dächern ihre Pigmente ablegten und sich in dunkelgraue Flecken verwandelten: Wer war diese Frau? Was zum Teufel wollte sie von mir? Ich versetzte sie in Szenen. Diese begannen zu sprießen, produzierten Tage und Jahre, Vorlesungen an der Universität, Hörsäle, eine scheue Pultnachbarschaft in diesen Hörsälen, Hot dogs in verschneiten Gassen, produzierten einen ersten Kuß, der nach Ketchup schmeckte, noch einen, eine gemeinsame Nacht, noch eine, zwei Studienabschlüsse, eine gemeinsame Wohnung, eine Flitterwoche samt Polarlichtern, eine Ehe, ein stattliches Haus, zwei Karrieren, eine abgebrochene Schwangerschaft, noch mehr Karriere, noch mehr Ehe - wer war diese Frau?
Sie richtete sich in der Wohnung ein. Die Scheidungspapiere hatte sie in Zürich gelassen. Ich verbot es mir, nachzufragen. Sie kaufte Möbel, Kücheninventar - ich hatte kaum Pfannen oder Teller -, ließ Vorhänge nähen, experimentierte mit Lampen.
Auch ein neuer Anstrich mußte her, weiß statt des deprimierenden Cremetons. Blumen in Hotelhallendimension. Dabei mache ich mir wirklich nichts aus Schnittblumen, sie eigentlich auch nicht, aber es mußten plötzlich Riesenbouquets sein, farblich fein auf die Innenarchitektur abgestimmte Kunstwerke, die jeden Montag im Abonnement angeliefert wurden, grandios duftende Pflanzenskulpturen. Aus dem Balkon wurde ein hübscher, exotischer Pflanzengarten, der, das war klar, den Winter nicht überleben würde, aber für den Moment paßte er ausgezeichnet zu unserer Ausstattung, von der Straße her betrachtet: ein winziger grüner Pelz im 28. Stock. Annas ordnende Hände. Sie hatte recht: So viel war aus diesem Nest zu machen. Wir lachten über das Paradoxe der Situation und die launige Melancholie, die alldem entsprang.
Auf einmal fühlte es sich wieder an wie ein Paar.
Anna hatte recht: Zuviel Vergangenheit. Wie konnte man all die Jahre einfach vergeuden. Nein, aus dieser Ehe war etwas zu machen. Unsere Ehe, das war ein Klumpen Lehm - und zwar erstklassiger -, der jahrelang in einer dunklen Ecke vor sich hin geschimmelt hatte und den wir versäumt hatten, ans Licht zu holen und zu formen.
Ihr Glück: Die Anwaltskanzlei hatte sich bereit erklärt, sie weiterhin zu beschäftigen, wenn auch nicht als Partner, sondern als einfachen associate lawyer<, und sie rapportierte jetzt an eine ihr damals untergebene Anwältin. Eine minderwertige Beschäftigung, aber immerhin Beschäftigung. Durchsicht von Verträgen, kleinere Datenbankrecherchen, Kundenkorrespondenz via E-Mail, die niemand erledigen wollte. Parallel dazu belegte sie Kurse an der New York
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