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Himmelreich

Himmelreich

Titel: Himmelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf Dobelli
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mich abholen kommst.«
    Ich wußte nicht, was denken, nein, eigentlich wußte ich es, ich war überzeugt, daß ihr »ich hab's mir überlegt, ich komme nach New York« eine bloße Finte war, um mich gutzustimmen, um mir die Unterschrift unter ein für sie höchst vorteilhaftes Scheidungspapier abzuluchsen. Die einfache Tatsache, daß sie Anwältin war, steigerte mein Mißtrauen ins Unerträgliche.
    »Falls du mich abholen kommst -«
    Ich schleuderte eine leere Bierflasche gegen den Telefonapparat. Seither blieb er stumm. Am liebsten wäre ich noch in dieser Nacht aus der Stadt geflohen. Statt dessen öffnete ich jede Flasche, die irgendwie nach Alkohol aussah, und schüttete den Inhalt in mich hinein, Wein, Bier, Whisky, es mußten mindestens acht Flaschen gewesen sein, ich trat auf den Balkon hinaus, es war ungefähr vier Uhr morgens, und schrie mir die Lunge aus dem Leib, ich glaube, ich sang zuerst, dann schrie ich, dann brüllte ich, dann lehnte ich mich über die Balkonbrüstung hinaus und wimmerte, dann hüstelte ich, dann kotzte ich über achtundzwanzig Stockwerke in die Tiefe, die Nacht glühte, sie zitterte wie ein Tier, dem man eine Spritze verpaßt hat, dieses Flimmern und Flackern und Vibrieren, dieses Flirren der Gegenwart, diese Möchtegerndunkelheit New Yorks, die nie eine ist.
    Anna kam wie angekündigt. Ihr Klingeln riß mich aus dem Schlaf. Sie mußte den verdammten Pförtner bestochen haben, damit er sie zu meinem Stockwerk ließ. Ich war außer mir vor Wut und bat sie durch die Metalltür hindurch, dieses Haus schleunigst zu verlassen. Ich fluchte, mag sein. Ich wollte sie nicht sehen, auch nicht für einen Augenblick, sie sollte ihre getürkten Scheidungspapiere wieder einpacken und verschwinden. Nach einer halben Stunde ließ das Poltern nach. Wäre mein Telefon nicht stumm in Scherben gelegen, hätte ich die Polizei gerufen, um sie von meiner Tür wegschaffen zu lassen. Eine Stunde später stand sie im Wohnzimmer. Offenbar genügte es auch in diesem Fall, den Security-Mann zu bestechen, der mit einem Paß-Schlüssel meine Wohnungstür aufschloß. Anna zuckte zusammen, als ob jemand sie am Rücken berührt hätte. Was sie in diesem Augenblick zu sehen bekam: einen Mann am Boden, in bloßer Unterwäsche, sein unrasiertes Gesicht, seine blutunterlaufenen Augen, die er nur unter größter Anstrengung zu einem zitternden Schlitz öffnete, dazu Bierflaschen überall, ein Telefonapparat inmitten von Scherben, Gestank von Schweiß, von Alkohol. Ich kam mir vor wie eine Leiche. Anna in einem frischen Sommerrock.
    Sie war sprachlos.
    Augenblicke später riß sie Fenster und Türen auf, ließ sich erschöpft in den Liegesessel fallen, der draußen auf dem Balkon stand. Kein Zweifel, das war New York: die Dächer, die Wolkenkratzer, das Röcheln und Hupen des Verkehrs aus den Straßenschluchten. Diese Qualität von Lärm gibt es in keiner anderen Stadt: das kurze, dumpfe Hupen, wie aus Posaunen mit dicken Schalldämpfern. Kein Quietschen von Reifen, kein bissiges Anfahren. Eher ein einschläferndes Rauschen, durchsetzt mit lustigen Tubatupfern. Ein elektrisches Plärren zwischendurch, Feuerwehr, dann wieder das einschläfernde Fließen der Geräusche. Ein monotones Rauschen, wie Luft aus einer Orgel, die nachhuscht, wenn die Töne schon verhallt sind.
    Ich beobachtete sie, wie sie sich durchs aufgesteckte drahtige Haar fuhr, wie sie es löste, wie sie mit geduldigen, kreisenden Bewegungen ihre Stirn massierte, während sich ihr Blick in den Wolkenkratzern verfing. Ihrerseits kein Wort. Zeitweise drehte sie sich um, schielte flüchtig aus den Augenwinkeln, prüfte, ob dieser scheußliche Kadaver, für den sie um die halbe Welt geflogen war, noch immer dalag. Ich fühlte, daß ich Zeit hatte. Ich konnte stundenlang daliegen und durch die offene Balkontür hinaus in den gelb verschmierten und von Kondensstreifen durchzogenen Abendhimmel starren. Nichts würde meinen Zustand verändern, auch nicht nach Tagen, nicht nach Wochen, außer daß ich allmählich verwesen würde. Und selbst dieser Gedanke war in einer seltsamen Weise behaglich. Es war paradiesisch, da zu liegen, nichts zu müssen, nur zu atmen, nicht einmal zu denken, nur zu sehen, was gerade da war: ein kieselgrauer Spannteppich, ein müde sich drehender Deckenventilator, vierarmig, Glastürme mit leuchtenden Firmenlogos darauf, auch ein Zipfel Himmel, eine offene Balkontür, der mit cremefarbenen Plastikbändern bespannte Liegestuhl, eine Frau,

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