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Himmelreich

Himmelreich

Titel: Himmelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf Dobelli
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University, um sich weiterzubilden (international law), aber sie schrieb sich nicht ein, sie wollte keine Diplome, sie genoß die Freiheit, zu erscheinen oder nicht zu erscheinen. Sie schlich von Vorlesung zu Vorlesung. Niemand schien Anstoß an ihr zu nehmen. Sie war wie nicht vorhanden. Manchmal schwärmte sie von dem einen oder anderen Studenten, von blitzgescheiten jungen Männern, neben denen sie saß. Einer kam in ihren Tagesberichten häufig vor, einer, der scheinbar in seiner Freizeit auf dem Empire State Building Kaffee serviert, um Geld fürs Studium zu verdienen. An Gruppenarbeiten konnte sie nicht teilnehmen; sie war ja nicht immatrikuliert, also existierte sie auf keiner Liste. Einmal besuchte ihre Klasse den Supreme Court in Washington, eine private Führung samt Audienz beim Chief Justice. Da konnte sie natürlich nicht mit. Meinen Vorschlag, sie solle sich doch für einen richtigen Studienplatz bewerben, schlug sie aus. Zu alt für die Universität, sagte sie.
    Nach sechs Monaten, es war inzwischen wieder Herbst - mein zweiter in New York -, ging sie nur noch sporadisch hin. Auch die Aufträge aus der Schweiz ließen immer länger auf sich warten und blieben schließlich ganz aus. Es war, als hätte sie jemand aus der Adreßliste der Menschheit gestrichen. Die New Yorker Luft machte ihr zu schaffen. Sie begann zu husten. Dabei war die Luft objektiv betrachtet nicht schlechter als in Zürich oder in irgendeiner anderen Großstadt - meine Sekretärin suchte die entsprechenden Statistiken heraus. Ich vermutete psychische Gründe - der konstante Lärmteppich, die Enge in dieser Stadt. Ihr Gefühl, nicht gebraucht zu werden. Besonders in der Nacht: ihr Husten, trocken, schleimlos, als hätte sie Mehlstaub geschluckt, kurz, ohne Nachhallen, Husten wie ein Punkt, kein Asthma, kein Keuchen. Der Arzt fand nichts.
    Ich wußte natürlich genau, was es war. Sie hatte sich, vom Tag ihrer Landung in New York an, in die Idee verbohrt, doch noch ein Kind zu bekommen, und zwar mit 41. Und anscheinend nur, weil ich mich zu dem Ausspruch hatte hinreißen lassen: »Meinetwegen, laß uns Kinder haben!« - damals, als sie mir telefonisch die Scheidung angetragen hatte.
    Ich verstehe nicht die ungeheure Bedeutung, die man - und eben neuerdings Anna - Kindern zuschreibt. Das ist es doch: Die Gene schaffen sich Körper - menschliche, tierische, pflanzliche - , mit denen sie sich ihr Überleben sichern. Und unsere Körper, auch Annas und meiner, sind nichts als Geländewagen für diese Gene. »Wollen wir das«, fragte ich Anna, »wollen wir das, Sklaven eines blinden evolutionären Willens sein?« Ich brauche kein Kind, ich brauche kein Vehikel, das meine Gene in die Zukunft transportiert. Es macht mir nichts aus, in puncto Reproduktion eine Einbahnstraße zu sein. Ich bin weder meinem eigenen Stammbaum verpflichtet noch irgendwelchen Bräuchen. Es macht mir nichts aus, wenn die Schweizer aussterben wegen mangelnder Fortpflanzung. Ich fühle mich nicht als Schweizer. Nicht einmal als Europäer. Ich bin ein Mensch, und als solcher höchstens der Vernunft verpflichtet. Homo sapiens - mein Gott, soll sich die Evolution doch über Eidechsen weiterentwickeln. Wenn schon ein Beitrag an die Zukunft, dann über Ideen, nicht über fleischliche Fortpflanzung. Wenn schon sich verewigen, dann lieber über die Schaffung innovativer Finanzprodukte als über Kinder.
    Diese Diskussion führte ich nur einmal. Ohne Erfolg.
    Anna hatte einen ganzen Apparat an Vitaminen aufgebaut, den ihr die Ernährungsberaterin empfohlen hatte. Dazu kamen Hormonzusätze auf Empfehlung der Frauenärztin. Mit 41 brauche der Körper Unterstützung, die Zeit arbeitete schon kräftig gegen die Fruchtbarkeit. Darum die Vitamine. Darum die Hormonzusätze. Darum die Therapie. Darum der ganze Klimbim. Als wäre das Kinderkriegen ein reines Management-Problem.
    Ich gab Mimi die strikte Anweisung, an Annas fruchtbaren Tagen weder Geschäftsreisen noch Dinners abzumachen.
    An solchen Abenden kam ich nach Hause, mein Kopf noch voller Geschäftsalltag, fand Anna im Bett, nackt, die Bettdecke zurückgeschlagen, sie lag da, hellhäutig, sommersprossig und reglos wie eine Kranke, und wartete darauf, daß ich mich ebenfalls auszog. Kein Wort der Begrüßung. Ich war etwas spät dran, weil Sitzung, weil ein Anruf noch in letzter Minute. Je ein Glas Wasser stand auf den beiden Nachttischchen. Eiswürfel darin. Auf meiner Seite blinkte der Wecker im Sekundenrhythmus. Auf ihrem

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