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Himmelreich

Himmelreich

Titel: Himmelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf Dobelli
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verließen. Ziemlich sicher waren es die Austern gewesen, aber ich zwang mich, nichts zu sagen und unbeschwert nach einem Taxi zu rufen. Und wenn die Blutungen dann wieder einsetzten, brach für sie eine Welt zusammen.
    Und jeden Monat stürzte die Welt aufs neue ein.
    Einmal an einem solchen Tag, als ich dringend ein Pflaster brauchte und die Tür zum Badezimmer aufstieß, sah ich sie, wie sie auf der Toilette saß, ihr Gesicht in den Händen vergraben. Es quälte mich, sie so zu sehen, und ich machte mir Vorwürfe. Mit der Zeit glaubte ich es selbst: daß ich es war, der Anna mit dem Versprechen eines Kindes in die USA gelockt hatte.
    Es folgten erste Gespräche mit der Gynäkologin über In-Vitro-Fertilisation.
    Zum Glück war ich in jener Zeit sehr beschäftigt. Nicht nur reduzierte ich die Belegschaft um ein Drittel und überwachte die Installation eines neuen Computersystems, auch ein Fall sexueller Belästigung beschäftigte mich das ganze Jahr, ein lächerlicher Fall: ein Abteilungsleiter, der eine geschiedene, zehn Jahre jüngere Produktmanagerin offenbar nach Arbeitsschluß auf der Straße geküsst hatte, oder umgekehrt, natürlich hatte sie keine Beweise, und natürlich hatte er keine Beweise, daß es nicht Liebe war - wer hat das schon? Jedenfalls führte es zu einem Vergleich: $ 250 000 für die junge Dame mitsamt Anwaltsrechnungen von ebenfalls $250000. Eine halbe Million für einen Kuß!
    Only in America.
    Ich verstand nicht, wie man angesichts einer Frau nicht standhaft bleiben konnte.
    Beginn der In-Vitro-Fertilisation.
    An den Wochenenden, soweit es meine Arbeitsbelastung erlaubte, Ausflüge. Jersey Shores: Anna in ein Buch vertieft - »What to Expect when You're Expecting«. Ihr Haar auf mindestens drei verschiedene Arten aufgetürmt. Sie trug einen roten Rock, der mir, das wußte sie, sehr gefiel. Ich hatte immer weniger Lust auf Marktforschungsberichte, legte sie zur Seite und beobachtete statt dessen die Wellen, die sich aufbäumten, zuerst noch lautlos, sich in einen Spitz hoben, scharf wie Glas, dann Sprühnebel auf dem Kamm, der vom Wind verweht wurde, das Überschlagen, das dumpfe Donnern, das Tosen, die Gischt, das Sprudeln, Geräusch wie Schotter.
    Manchmal so, als würde Kies in einen Metallkübel geschüttet. Der Schaum auf dem Sand wie Zungen, die bis hin zu meinen Zehenspitzen reichten. Ich kam nicht zum Lesen. Auch nicht zum Denken. Ich starrte nur in die Wellen hinein, deren Aufgabe darin besteht, Sand zu immer feinerem Sand zu mahlen und so die Erdrotation allmählich abzubremsen. Wir wechselten kaum ein Wort, Anna und ich. Ich registrierte bloß, daß wir beisammen waren. Möglich, daß zwischen uns alles zerbrochen war, daß es aber nicht auffiel, weil ein Wochenende auf diese Art für beide angenehmer und vor allem erholsamer war, als wenn man sich stets hätte unterhalten müssen wie frisch Verliebte. Es war erholsam, nicht frisch verliebt zu sein.
    Draußen ein Frachter. Von weitem: das Cappuccino-Schäumchen vor dem Bug. Manchmal ging die Rauchfahne mit dem Schiff, und der Ruß stieg wie eine Prozession in den Himmel. Illusion von Stillstand. Schaute ich nach einer Stunde nach, war der Tanker verschwunden, der Horizont blank wie Draht. Ich stellte mir vor - in fünf Jahren, in zehn Jahren: Anna und ich am gleichen Strand, in den gleichen Liegen. Der Himmel wolkenlos wie an diesem Tag. Die Möwen, die Eisverkäufer, der Öltanker weit draußen, der Lärm von der Straße - alles noch da. Die Badetücher in Orange statt weiß. Sonst alles gleich. Anna in ein Buch vertieft, ich schaue aufs Meer hinaus. Alles wie an diesem Tag.
    »Ich glaube, ich gehe zurück - in die Schweiz.«
    Das sagte sie einfach so, während sie in ihrem Strandsessel lag, sie schaute nicht einmal vom Buch auf.
    Der Himmel hatte angefangen, sich mit dunklen Wolken zu füllen. Ich zog mir ein Hemd über.
    »Anna«, fragte ich, »hast du Hunger?« Ich streckte ihr die Büchse Cashews hin.
    »Ich halte das nicht mehr aus, diese Warterei, diese Nichtsnutzigkeit. Auf was warte ich denn eigentlich? Auf dich? Auf ein Kind? Auf Romantik? Auf was? Sag es mir. Auf was?«
    Sie sagte es in einem viel gelasseneren Ton, als der Inhalt der Botschaft es gefordert hätte, auch war da ein feines Körnchen Herablassung, nur ein Schimmer auf der Oberfläche ihres Blicks, aber ich sah es.
    Ich wußte nicht, was sagen.
    Also aß ich Cashews.
    »Übrigens: Das mit dem Kind ist ja dein Problem.«
    Sie schwieg, um mir Zeit zu geben,

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