Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Himmelreich

Himmelreich

Titel: Himmelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf Dobelli
Vom Netzwerk:
Herzensangelegenheit.«
    Ich war nicht sicher, ob sie die nächsten Worte mit derselben Präzision würde hinzufügen können. Ihre Kehle hielt so viel Schwingung zurück, daß ihre Sätze tönten, als kämen sie aus einer verschlossenen Kammer. Ihre Hände vor meinem Gesicht, ihre Fäuste, die ich jetzt zu bremsen versuchte.
    »Sag mir, daß es nicht stimmt.«
    »Also, es stimmt nicht.«
    »Warum soll ich dir noch ein einziges Wort glauben?«
    »Weil es stimmt.«
    Sie ließ irgendein inneres Bild mit geschlossenen Augen vorbeigehen, lehnte sich dann zurück, und ich half ihr, sich zuzudecken.
    Es gibt Frauen, die können ohne Tränen weinen. Die Tränen, wenn sie dann kommen, sind nichts als der letzte Ausstoß - wie wenn eine Kerze erlischt und einen Rußfaden in die Luft entläßt -, eine Art Zeichen, daß sie wieder in die Wirklichkeit zurückgekehrt sind. Ich fuhr mit meinem Finger um ihre Augen. Mehr als einmal. Sie ließen sich nicht schließen, und zum ersten Mal dachte ich: Niemand kann heftiger ohne Tränen weinen als Anna.
    »Komm, spielen wir Schach.«
    Ich stellte es auf, ein Steckschach, das ich in irgendeinem Duty-free-Shop am Flughafen gekauft hatte. Was sollten wir denn noch miteinander streiten? Schach schien perfekt.
    »Sei nicht albern.« Jetzt stand sie auf, wischte sich den Sand von den Schenkeln, von den Knien, vom Badeanzug.
    »Fahren wir in die Stadt zurück«, sagte sie. Meine Frage: »Hast du mich denn noch nie betrogen ?«
    Sie weinte nur und schüttelte den Haarschopf, sie weinte in den Boden hinein, immer wieder schüttelte sie den Kopf, wie sie dastand, vornübergeneigt, den Boden anstarrend, um mich nicht anschauen zu müssen.
    Ich hatte ihre Schulter gefaßt.
    »Komm«, sagte sie, »rühr mich nicht an.«
    Wir standen so noch eine ganze Weile. Ich wußte selbst nicht, was ich sagen wollte. Wir starrten beide und jeder für sich in den Sonnenuntergang, als gäbe es für jeden von uns einen separaten Untergang.
    Dann zum Wagen zurück.
    Sie kehrte nicht in die Schweiz zurück. Davon konnte ich sie zum Glück abhalten. Sie hörte mir zu und war einigermaßen bereit, sich umstimmen zu lassen. Ich erklärte ihr, daß es für sie und für uns besser sei, in New York zu bleiben, ich legte Gründe dar, die teils überzeugten, teils nicht, doch sie blieb, das war die Hauptsache, es war mir aus irgendeinem Grund wichtig, sie hier in New York zu wissen. Daß sie mich nicht verließ, war mir gleichzeitig auf eine seltsame Art unheimlich - nach all den gescheiterten In-Vitro-Versuchen. War es die Angst vor der Niederlage, die sie in Zürich erwarten mußte, dieses für jedermann sichtbare Scheitern ihres Lebenswegs? War es, weil tief drinnen doch noch ein Körnchen Überzeugung für unsere gemeinsame Sache steckte und weil es ihr gelungen war, den Hohn, der diese Sache wie eine Schale umschloß, aufzubrechen? Oder war der Grund außerhalb zu suchen?
    Anna wurde immer stiller. Ich fühlte mich zunehmend für ihr Tagesprogramm verantwortlich, was mich belastete, was ich aber unter allen Umständen zu verbergen versuchte. Es schmerzte mich, sie so unbeschäftigt zu sehen, und nicht selten trug ich mich mit dem Gedanken, meinen Job hinzuwerfen und mit ihr nach Zürich zurückzukehren - zwei Jahre New York sind genug! Dann wiederum packte mich dieser unauslöschliche Ehrgeiz - es konnte unmöglich noch Jahre dauern, bis ich Konzernchef wurde, und dann wären wir ohnehin wieder in Zürich. Mit oder ohne Kind. Es schien mir nicht, daß sie die ganze Zeit besonders unglücklich war, sie war einfach gelangweilt, fand ich, da einsam, da unwichtig. Sie liebte die Museen dieser Stadt, je moderner und ausgefallener, desto besser, ja sie genoß sogar den Flirt mit den teuren Produkten der Madison Avenue, was früher überhaupt nicht ihre Sache war. Von einem Tag auf den anderen erschien sie in den teuersten Chanel-Kostümen, die sie dann aber doch nie trug, weil sie sich aus offiziellen Empfängen nichts mehr machte. Es genügte ihr offenbar, sie selbst zu sein, sie mußte nicht auch noch anderen etwas bedeuten, und vielleicht schätzte sie es auf ihre Weise, ein Niemand zu sein, und war darum so still. Ich verstand sie immer weniger.
    Im Anschluß an den Fall sexueller Nötigung verstärkte ich die Firmen-Richtlinien. Direkt ausgesprochen: never fuck payroll. Nach der Restrukturierung übriggeblieben: 4755 Frauen und 5669 Männer in meiner Belegschaft, ergibt mehr Kombinationsmöglichkeiten als Sandkörner auf

Weitere Kostenlose Bücher