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Himmelreich

Himmelreich

Titel: Himmelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf Dobelli
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Respektlosigkeit, ein Skandal, meinetwegen, aber ich kann nicht, ich kann nicht hin, um eine Totenrede zu hören, die nichts mit ihrem - unserem - Leben zu tun hat, ich schaffe es nicht, vor einem frisch angepflanzten Grab zu stehen, vor dem lackierten, provisorischen Holzkreuz mit dem hingenagelten Messingschildchen, das ihren Namen trägt, vor den Kränzen und den Schleifen und den Blumenbouquets, Hände zu schütteln, eine endlose Reihe von Verwandten und Bekannten zu begrüßen, alle in ihren dunkelsten Garderoben, also so, wie man sie nicht kennt, Leute aus der Bank, ihre Anwaltskollegen von Ladner & Partner, es genügt, daß ich es mir vorstelle, ich muß es nicht auch noch erleben.
    Das Gepäck gebe ich am Flughafen in Verwahrung und setze mich in den nächsten Zug. Schnellzug nach Arth Goldau, Bellinzona, Lugano, Chiasso, Milano. Regen auf der Alpennordseite. Reste von spätem Schnee auf den Hügeln, der als Zufallskomposition einzelner hingeworfener grauer Lappen daliegt. Der Zürichsee wie Blech. In Arth Goldau steige ich aus - plötzlich der Wunsch, zu wandern. Bärlauchwald. Nebel. Schuhe, für die Fifth Avenue gemacht, schwarz und glänzend, Kalbsleder, rahmengenäht mit Ziernaht, jetzt im nassen Laub. Laub, von den Würmern halb zu Erde gemacht, zu Dreck, aus dem Bärlauch sprießt, büschelweise. Steine unter dem Laub, hagelkörnergroß. Jeder Tritt fühlt sich anders an, es ist, als hätte ich Augen in den Füßen. Der Aufstieg steil. Ich schwitze und friere gleichzeitig. Spinnweben zwischen Bärlauchblättern. Dunkelgrün schimmernde Käfer. Mein langsamer Schritt. In der Schule gelernt: Das Moos an den Baumstämmen markiert Westen. Ich marschiere gegen Osten, scheint es, und wenn ich zurückblicke: Moos am ganzen Stamm. Wie ein Hirnloser: Ich umarme einen Baumstamm, einfach so. Meine Hände ertasten sich gegenseitig, wie zwei Reptilien. Wie fremd der eigene Körper wird, wenn man ihn nicht sieht. (Wie fremd irgendein vertrauter Körper wird, wenn man ihn nicht sieht.) Das tropfende, kalte, bauschige Moos vermischt sich mit meinem Hemd. Meine Stirn im Moos. Mein Haar im Moos. Überall ist Westen. Dann weiter. Nebel, der nicht aufhören will. Eine aufgeschreckte Amsel im Gebüsch - ihr Alarm, wenn sie sich davonmacht. Langsam saugen sich meine Schuhe voll. Gestank von Bärlauch. Meine Mutter hat ihn jeden Frühling unter den Salat gemischt. Danach ließ ich Zahnpasta im Mund zergehen, so stark war der Geruch. Flüssiger Nebel. Ich zertrete einen Käfer. Nicht absichtlich. Ich gehe ihm aber auch nicht aus dem Weg. Ob der Käfer lebt oder stirbt, ist eine Funktion davon, mit welchem Fuß ich diesen Weg angetreten bin - vor Stunden. Was will ich in diesem Wald? Das Tropfen aus den Ästen - diese sich unaufhörlich austropfende Dusche. Nadeln sind Blätter. Man hat viel in der Schule gelernt, aber wenig im Leben. Was will ich eigentlich?
    Ich weiß es nicht.
    Was ich will: einfach wandern und an nichts denken. Sich noch einmal verlieben, noch ein letztes Mal, und sei's bloß aus einer Laune heraus. Rausch der Verzückung. Verschwendung von Energie. Verzehren aller Kräfte. Abbrennen der innersten Feuerwerkskörper.
    Sich verausgaben, ruchlos. Vulkan sein. Sich verlieren an eine Frau. Mit allen Fingern durch fremdes Haar fahren. Nichts denken. Nur sein. Alles vergessen. Den Tod vergessen. Lebendig sein. Das Leben reinschaufeln. Trichter in den Mund und dann rein mit allem, was diese Welt zu bieten hat. Stopfen, wie man Gänse stopft. Rachen auf, Leben rein, mit der Faust nachstoßen, runterschlucken. Dann den nächsten Bissen. Leben, bis es am ganzen Körper schmerzt. Füße ans offene Feuer halten, bis man schreit. Lieben, bis man schreit. Mensch sein. Tier sein. Innen und außen gleichzeitig sein. Mann sein. Der teuflische Ungehorsam gegenüber der Welt. Hoch oben auf einem Gipfel stehen - ringsherum nichts als Schneeverwehungen und schwarzer Himmel - und schreien, bis die Stimmbänder reißen. Landschaft einatmen. Gräser aus den Alpwiesen zerren und zwischen den Zähnen hindurchziehen. Nackt und von weit oben in eine riesige Schwarzwäldertorte springen, tief hineinsinken, in der kühlen Sahne vorwärts kraulen, sich durchfressen, und dann, wenn man am anderen Ende herauskommt, sich mit beiden Händen durchs Haar fahren und die Kuchenmasse von den Fingern schlecken. Sich an die Schwänze der Vögel klammern und mitfliegen. Die Sonne, die rote, bonbongroße, vor dem Untergang wegpflücken, sie im Mund

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