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Himmelreich

Himmelreich

Titel: Himmelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf Dobelli
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ausweisen.
    »Aber, was Sie gewählt haben, ist doch meine Nummer!« schreie ich in den Hörer. Argumentieren zwecklos. Ich renne auf die Straße hinaus. Noch immer dieser Regen, dieser reißende Wind, dazu Rush-hour, unmöglich, ein Taxi zu finden. Ich lege dem Doorman des Drake Hotel von nebenan eine Zwanzigdollarnote in die Hand; der beginnt augenblicklich auf seiner Pfeife zu trillern, aber kein Taxi. Ich winke, ich stehe mitten auf der Park Avenue und hüpfe mit offenen Armen. Überall Pfützen. Strömender Regen. Ich werfe mich vor ein Taxi mit OFF SERVICE-Zeichen. Quietschen. Ich reiße die Wagentür auf, schlage dem Fahrer meine letzte Banknote - einen Hundertdollarschein - in die Hand und befehle: »Lower Manhattan Community Hospital. Fast.« Wo das sei, welche Avenue, welche Straße, will er wissen. »I don't know. You must know. You are the fucking driver!« Möglich, daß ich ihn angeschnauzt habe.
    Jetzt fährt er an den Randstein, in aller Ruhe, schaltet den Wagen auf Park. Nur der Motor läuft noch, sonst ist alles reglos, seine Hände auf dem Lenkrad, sein Hinterkopf, seine kräftigen Schultern. Ich klemme meine Fäuste zwischen die Oberschenkel, damit sie nicht die Kunststoffscheibe einschlagen. Möglich, daß der Fahrer jetzt mit geschlossenen Augen hinter dem Steuer sitzt. Ich sage kein Wort. Nach einer Weile kramt er sein Straßenverzeichnis aus dem Handschuhfach. Alles übertrieben gemütlich. Er benetzt seinen Mittelfinger für das Umblättern jeder einzelnen Seite. »William Street«, sagt er und schaltet auf Drive.
    Wir kommen gut voran auf den ersten Meilen, weil gegen den Rush-hour-Verkehr, aber ab der 20. Straße wird's ein Kriechen. Stoßstange an Stoßstange. Regen wie Taubendreck, schwer und pfundig. Eine Lawine an Bremslichtern. Je schneller sich die Scheibenwischer bewegen, desto langsamer die Fahrt. Endloses Geschmier in den Straßenschluchten. Die letzten vier Kilometer renne ich. Ich weiß nicht, weshalb ich mir die Strähnen aus dem Gesicht wische, während ich durch New York renne. Ich renne und renne. Atemlos, benommen von dem berauschenden Gefühl, Teil dieser Symbiose zwischen Wasser und Leben zu sein. Straße um Straße. Ich weiß nicht, was mich nasser macht, der Regen oder der Schweiß. Ich renne. Erschöpfung nicht einmal als Gedanke. Meine Schuhe, die bei jedem Tritt dem Asphalt einen Tropfenkranz entreißen, sich mit Regen vollsaugen, um ihn während der Schwungphase wieder fallen zu lassen, um erneut in eine Pfütze zu klatschen. Die letzten Fasern meines Anzugs jetzt mit Regen vollgesogen. Die Welt eine einzige Pfütze.
    Plötzlich stehe ich, wo ich nie habe stehen wollen, am Empfang des Community Hospital. Aus brauntrüben Plexiglasabdeckungen, quadratischen, rußdunklen und teilweise verbogenen Plastikverschalungen fällt Neonlicht. Einige Röhren zucken, flackern an ihren Enden kurz an und versiegen gleich wieder. Die Wände aus unverputztem Beton, die sagen wollen, daß dieses Spital in Eile und unter größten Budgetzwängen hochgezogen wurde. Auf gleicher Höhe, nebeneinander, beide von Flaggen umstellt, das gerahmte Bild des Spitaldirektors und das gerahmte Bild des Präsidenten dieses Landes, als wäre ihre ausgestrahlte Zuversicht der heilende Geist selbst. Linoleumboden. Glitschig wie Eis, wenn man, wie ich, in triefenden Klamotten dasteht. Ringsum an den Wänden Stühle wie in älteren Flughäfen, fünf oder sechs Stück aneinandergeschweißt, hart, unbequem, Plastikschalenstühle wie eine Strafe. Bäche laufen aus meinen Schuhen.
    Der Chefarzt, ein Mittvierziger mit schütterem Haar und bleicher, geäderter Haut, ein Mann mit Mangel an Zeit und Schlaf, mit Ringen unter den Augen und kleinen, schwarzen Geräten in der Kitteltasche, die unaufhörlich vibrieren, meint, in zehn Tagen sei sie wieder auf dem Damm, möglicherweise schon früher. Es scheint mir, als versuche er absichtlich, seinem Gesicht einen hoffnungsvollen Anstrich zu geben. Aber im Grunde ist er düster. Ob eine Schädigung des Hirns eingetreten sei, das könne jetzt noch nicht eingeschätzt werden. Zunächst müßten die vegetativen Funktionen wieder in Gang gebracht werden, der Herzschlag, die Atmung, die Verdauung.
    Wir unterhalten uns im Stehen.
    Ich verstehe wenig, während er redet und Fachausdruck an Fachausdruck reiht, ich beobachte bloß seine Lippen, die sich hastig bewegen, wie auch seinen sprunghaften Blick. Dabei das Gefühl, ihm lästig zu sein, ihm Zeit zu stehlen, die er zur

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