Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Himmelreich

Himmelreich

Titel: Himmelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf Dobelli
Vom Netzwerk:
Rettung hundert anderer Patienten hätte einsetzen können. Was mich stört, ist nicht so sehr die alles umspannende Eile der Situation, sondern meine Unentschiedenheit, ob diesem Mann und vor allem seinem amerikanischen Gesundheitsapparat mitsamt der aus den Wänden quellenden Feuchtigkeit zu vertrauen ist. Wir unterhalten uns im Gang, und so müssen wir ab und zu ausweichen, wenn ein schwirrendes Team aus Ärzten und Krankenpersonal rennend mit einem Notfall durchwill. Er redet und redet. Fachterminologie. Überall der Geruch nach Hygiene, nach Sterilisiermitteln. Meine Gedanken draußen, auf der Terrasse, ich sehe Anna, wie sie in New York ankommt, die Schuhe abstreift, sich auf den Balkonsessel setzt und die Beine übereinanderschlägt, Anna in ihrem roten Sommerkleid, Anna mit ihrem spiraligen Haar, Anna, die soeben ihr Zürich aufgegeben hat, um unser Leben zu leben, der Versuch eines gemeinsamen; ich sehe sie, wie sie auf dem Balkon sitzt, im Liegestuhl, unser erster gemeinsamer Abend in dieser Stadt, die Huplaute aus den Straßen, das Orange der untergehenden Sonne.
    Der Arzt bekräftigt nochmals, daß mit einer fünfzigprozentigen Wahrscheinlichkeit kein Verlust der Sprech- und Lesefähigkeit eingetreten sei, Genaueres könne, wie gesagt, erst später festgestellt werden.
    »As you know, probabilities are always theoretical.«
    Er wirkt sachlich, wenn auch gehetzt, rastlos. Er erlaubt mir nicht, zu vergessen, daß er in Eile ist. Erst durch unnachgiebiges Nachfragen erfahre ich, daß man Anna heute morgen beim Battery Park aus dem Hudson gefischt hat - ein Tourist, der gerade dabei war, die Fähre zur Statue of Liberty zu besteigen, habe sie entdeckt - eigentlich nur ihren Hinterkopf, das Büschel aufgelösten, roten Haars und einen linken und rechten Arm im bewegten Wasser schlingernd - und sofort einen Polizisten hergerufen-, daß ihre Lunge minutenlang mit Wasser gefüllt war, mit dem verpesteten Wasser der New York Bay. Ich erfahre von der Intubation heute morgen, von der Stabilisierung der Herzfrequenz und von einer zweiten Intubation heute mittag.
    Einmal fragt er: »Has she always been suicidal?«
    Wir stehen an der Betonwand. Alles ist von Neon beschlagen, der Boden, die Wände, die Türen, selbst die Brille des Arztes. Ich halte mich an einer Sauerstoffflasche fest, die im Gang steht. Sie ist in ein dunkles Grün getaucht, das mich an Pflanzen erinnert, genauer, an Palmblätter. Ihre Oberfläche ist kalt, aber durch den dicken Farbaufstrich etwas weniger kalt als blankes Metall. Keine Ahnung, weshalb ich mich an dieser Sauerstoffflasche festhalte. Ich glaube nicht, daß ich ohne diesen Halt umgekippt wäre. Ich brauche einfach etwas Festes in meinen Händen.
    Von irgendwoher das Geräusch einer Beatmungsmaschine.
    Ab und zu das Quietschen eines Cateringwagens, das, ausgehend von einer nicht geölten Stelle im Kugellager eines Rädchens, den langen Korridor mit einem sirenenhaften auf- und absteigenden Ton durchzuckt.
    Cateringwagen. Erinnerungen an Langstreckenflüge -Chicken or Beef.
    Die sich aus dem Beton drängenden gelbweißen Kalkwürmer gibt es auch hier. So muß es in einem alten Hirn aussehen, denke ich. Das Flackern von Neonlicht.
    Ob ich sie sehen könne?
    Ausgeschlossen. Morgen vielleicht oder übermorgen.
    Leer verlasse ich das Spital. Erschöpft. Ich komme mir steif und wie ein Angestellter meiner Ängste vor, und alle Hoffnung, die ich aufbaue, zerfasert an ihren Rändern. Draußen der ungeheure bleiche Himmel, groß und ohne Bewegung. Auf dem Weg zurück zur Wohnung werde ich von einem Schwarzen angerempelt. Ich bleibe nicht stehen, sondern gehe weiter. Immer wieder packt mich der Schwarze an der Schulter. Ich vermeide Augenkontakt, und weil es noch immer regnet, fällt es mir leicht, ihn nicht zu beachten, ich tue, als würde mich dies alles nichts angehen, als wäre es nicht meine Schulter, ja als säße ich in irgendeiner Maschine irgendwo über dem Atlantik, der Glanz des Mondes auf dem Wasser, auf den Flügeln. Erst als ich stehenbleibe, wird klar, daß der Schwarze kein Geld will, keine Kreditkarte, keinen Ausweis, er will mich nicht einmal niederprügeln. Der Schwarze, betrunken und also keine Gefahr, lallt noch lange weiter, als ich davonschlurfe - wie nicht vorhanden.
    Ein langer Abend allein mit Whisky.
    Anderntags der Anruf, daß sie verstorben sei.
    Beerdigung in Zürich.
    Ich kneife, was sonst nicht meine Art ist, die Entscheidung fällt noch auf dem Flug.

Weitere Kostenlose Bücher