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Himmelreich

Himmelreich

Titel: Himmelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf Dobelli
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zergehen lassen. Tief ins Firmament hineinlangen und die Sterne durcheinanderwirbeln, die Arme herausziehen: Hände voller Glitzer.
    Noch im gleichen Jahr, es war ein später Sommer, der schon in einen Herbst überging - die Manhattan Finance Corporation erzielte soeben ein Rekordergebnis, ich war erleichtert, ein wichtiges Etappenziel erreicht zu haben, ein nicht ungebührlicher Erfolg -, erreichte mich die Nachricht, daß ich zum Nachfolger des abtretenden Konzernchefs Sievers gewählt worden sei. Antritt zum ersten Januar, also in vier Monaten.
    Nach dem Tod von Anna und den vorausgegangenen Qualen unserer Beziehung, nach den Verirrungen, den Verletzungen, dem Verschweigen, dem Gift, nach dem unergiebigen Hin und Her und nach zweieinhalb Jahren New York tat er gut, dieser Sieg. Ich hatte ihn gebraucht. Wie fest, wie nötig, erkannte ich erst jetzt, als er da war, ich mochte endlich wieder lachen, was mich einen Augenblick lang befremdete, ich spürte es, ohne mich im Spiegel zu sehen, allein schon die Spannung in den Muskeln fühlte sich erfrischend an, dieses Ziehen und Straffen der Haut über den Backenknochen, dieses feine Ziehen an den Augenwinkeln. Gleichzeitig beschlich mich das Gefühl, daß es eine falsche Reaktion war, eine verlogene, ein Relikt aus einem früheren Leben. Ich wünschte mir, daß ich nicht so empfinden würde, aber dann sagte ich mir: Weg mit der Trauer! Weg mit der Melancholie!, und begann, den Triumph zu genießen, und ich wünschte, daß aus Triumphen dieser Art mein ganzes Leben bestehen sollte. Ich war glücklich, wieder jener zu sein, dem alles gelingt, kein Hadern mehr, keine Fehltritte, nur noch eines: Geradlinigkeit; ich hatte die Vernunft wiederentdeckt, und ich interpretierte das als meine persönliche Renaissance. Ich wollte sie festhalten, sie nie mehr loslassen. Es war der Reflex, wie ihn Säuglinge haben, denen man einen Kugelschreiber entgegenstreckt - sie klammern sich daran fest, so fest, daß man sie daran hochziehen kann. Und im gleichen Atemzug zweifelte ich, ob diese Geradlinigkeit nicht nur eine neu gespannte Tapete über einer zerbrochenen Mauer war. Aber dieser alte, vertraute Erfolgspfad war mir in diesem Moment, auch wenn er sich als Illusion entpuppen sollte, willkommener als jede andere Empfindung. Und zur Feier des Tages entschied ich mich zu etwas, was ich sonst entschieden ablehne: Ich machte blau, einfach so.

Spazieren im Central Park, allein, was ich schätze - man verbringt zu viele Stunden in der Gesellschaft anderer.
    Dabei habe ich nichts gegen Leute, ich hoffe nur, daß das Jenseits weniger bevölkert sein wird. Es regnete wieder einmal, was mich nicht störte - der Ausläufer eines Orkans, der vor zwei Tagen die Bahamas verwüstet hatte, so hörte ich, jetzt als triefender Schwamm über der Stadt. Auch amerikanische Touristen unter den Toten. Die Wetterstationen hatten für New York vor Windschäden wegen dieses Wirbelsturm-Ausläufers gewarnt, aber so schlimm war es nicht, es regnete bloß schief wie aus einer Dusche. Solange ich den Schirm in einem konstanten Winkel hielt, blieb es erträglich. Naß wurden die Hosen und die Schuhe - und wenn die einmal vollgesogen sind, ist nichts mehr dabei. Außerdem war es ein warmer Regen, geradezu tropisch. Kein Mensch auf den gewundenen Wegen, der Park wie ausgestorben, dabei war es noch nicht einmal dunkel, ja es war mitten am Nachmittag. Sogar die Vögel waren verschwunden, fortgeblasen Richtung Atlantik. Abgerissene Äste auf den Straßen, aber die gibt's auch an sturmfreien Tagen. Gefühl von Leichtigkeit. Gefühl von Einsamkeit. Man müßte sich selbst küssen können.
    Nun hatte es meinen Schirm doch herumgerissen - eine Fahne am Metallskelett, es zerrte und schwirrte, ich drehte mich um und stieß das Geflatter in den Wind hinein, ruckartig, mehrmals. Zuerst war es nur mein Gesicht. Dann spürte ich es im Haar: Wasser wie Eissorbet. Überall braune, lehmige Rinnsale. Wo sie zusammenflossen, bildeten sich Tümpel. Wo vorher Gras gewesen war, etwa ein Baseballfeld, jetzt ein See. Ich zog die Schuhe aus. Barfuß durchs Seegras waten.
    Auf einmal ein Anruf aus der Schweiz. Der am anderen Ende meldete sich mit Raphael - aus Zürich. Das Rauschen und Pfeifen von Wind im Hörer, das Knacksen, jetzt verstärkt.
    »Tut mir leid, da müssen Sie sich verwählt haben«, antwortete ich, leicht gereizt über Mimi, die einen solchen Anruf auf mein Handy durchgestellt hat. Für sie sind alle Anrufe, die in einer

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