Himmelreich
Fremdsprache kommen, entweder persönlich oder wichtig.
»Ein Freund von Josephine. Sie sind doch Philip Himmelreich?« fragte er, seltsam überrascht, ja verdutzt, denjenigen am Telefon zu haben, den er angerufen hatte.
Meinerseits kein Bedürfnis nach Vergangenheit, ich versuchte es ihm zu erklären.
»Es ist wichtig, Herr Himmelreich, ich brauche Ihre Hilfe.«
»Wissen Sie, wie viele Dinge jetzt gerade wichtig sind? Etwa zehntausend. Die habe ich alle auf meinem Tisch liegen; die brauchen alle meine Hilfe. Also, bitte, entschuldigen Sie mich, Herr Raphael, und richten Sie Josephine einen schönen Gruß von mir aus.«
Er blieb hartnäckig. Ich setzte mich auf den nassen, schwarzen, glimmerigen, vom Gletscher abgeschliffenen Fels des Central Park, das einzige Stück Urnatur, das man nicht abgehobelt hat, ich saß und lauschte, die Hand muschelförmig über das Handy gelegt, das zarte, elektronische Innenleben beschützend. Ich weiß nicht, warum ich das Gespräch nicht einfach beendet hatte.
Allmählich erinnerte ich mich: Sie erzählte so oft von ihm, daß ich mich beherrschen mußte, nicht eifersüchtig zu werden. Natürlich hatte ich keinen Grund dazu, eifersüchtig zu sein, wenn jemand eifersüchtig sein konnte, dann sie, und zwar auf Anna - oder Anna auf sie. Außerdem war es mir zuweilen recht, daß sie Verehrer hatte, und Raphael war ganz eindeutig einer. Verehrer machten unsere Affäre leichter, weniger exklusiv und damit spielerischer. Raphael und Josephine paßten auf einander auf wie Geschwister. Wenn einer an Liebeskummer litt, tröstete ihn der andere. Wenn der eine etwas zu feiern hatte, feierten sie zusammen. Kein Seenachtsfest ohne Raphael. Keine Erst-August-Feier ohne Raphael. Keine Neujahrsfeier ohne Raphael. Raphael war, soweit ich es damals einschätzen konnte, eine Art Ersatzehemann geworden. Falls ich ihr das Herz brechen würde, sagte sie einmal, würde er mir die Fresse polieren. Natürlich war es als Witz gemeint. Er war schwul, wobei ich nie wußte, ob er das auch tatsächlich war. Raphael, das sei der einzige Mensch, der sie verstehe - offenbar hatte ich sie nur unvollkommen verstanden. Jetzt hatte ich also zum ersten Mal in meinem Leben das Vergnügen, und es tat mir leid, daß ich so schnippisch reagiert hatte. »Also, bitte, lang wird die Elektronik meines Handys bei diesem Sturm nicht mehr mitmachen, aber schießen Sie los.«
Raphael berichtete. Es waren lauter Vermutungen. Natürlich konnte man nichts beweisen. Von Tod konnte keine Rede sein. Wahrscheinlich waren die Kommunikationsverbindungen einfach unterbrochen. Ich hatte die Bilder der Verwüstungen nach dem Hurrikan im Fernsehen ja gesehen - das konnte Monate, wenn nicht Jahre dauern, bis alles wieder funktionierte. Wie viele Opfer der Wirbelsturm gekostet hatte, konnte noch nicht beziffert werden. Soviel war klar: Die Bahamas haben den Notstand ausgerufen und ihr einziges Militärschiff mit Hilfsgütern Richtung Exumas - so heißt die Inselkette - losgeschickt. Ich verstand Raphael nicht.
Warum nicht einfach ein paar Wochen warten, dann würde Josephine sich schon wieder melden. Er sprach von Lebensgefahr, von einer »letzten Chance«. Alles sehr kryptisch. Er redete und redete; ich verstand ihn immer weniger.
Dann sagte er: »Aber Sie müssen es doch wissen: Sie waren ja mit Josephine dort unten. Außerdem haben Sie zusammen ein Kind, eine Familie, eine Existenz, Sie müssen doch wissen, ob sie noch lebt. Wenn es jemand wissen muß, dann Sie.«
Ich starrte den Hörer an.
»Ich hatte ja mitbekommen, wie Josephine von Ihnen förmlich aufgefressen wurde, damals, vor zweieinhalb Jahren in Zürich. Und als Sie dann bekanntgaben, nach New York auszuwandern, und also Schluß machten, ging es ihr miserabel. Und noch an jenem Abend reifte ihr Entschluß, Sie zu entführen. Offenbar wie angekündigt. Sie tat mir leid, sie war im Innersten verletzt und fand keine Kraft, einen detaillierten Plan zu schmieden, und so bot ich ihr meine Hilfe an. Anderntags fuhren wir mit dem Lieferwagen zuerst dutzendmal um den Flughafen, aber Sie waren nirgends zu sehen. Josephine kochte vor Wut. Jetzt ist er also doch einfach abgehauen, dieser Feigling!< rief sie. Und als wir Sie dann endlich entdeckt hatten, vor dem Terminaleingang, war ich es, zusammen mit Ingo, der Sie eigenhändig in den Transportbus geschleift hat, Zürich Flughafen, Sie erinnern sich.«
Ich erinnerte mich nicht. Warum soll ich mich an etwas erinnern, was gar nie
Weitere Kostenlose Bücher