Himmelreich
IWC. In der Innentasche des Sakkos steckte mein Paß, und als ich den Anzug hochhielt, fiel meine Lesebrille (Cardin) zu Boden; ich habe auch ohne sie die letzten drei Jahre auf dieser Insel überlebt. Ich nahm mir vor, sie weit fortzuschleudern, aber ich fand dazu keine Kraft. Ich hängte sie mit dem Bügel nach außen in die Brusttasche des Jacketts. Eine ganze Weile lang hielt ich den schlaffen Anzug hoch und ließ den Wind diese Hülle durchfahren. Dann zog ich ihn an und legte mich neben Josephine in den Sand, just als mich die Müdigkeit überfiel.
Ich denke: Nichts hätte anders kommen können. In seiner Beliebigkeit ist das Leben äußerst wählerisch.
Einleiten des Sinkflugs kurz nach Paris - das unmerkliche Vernichten von potentieller Energie zugunsten der Vorwärtsbewegung. Leerlauf der Triebwerke. Die plötzliche Stille. Das einschläfernde Wippen der Tragflächen. Das gleichmäßige Rauschen der den Rumpf entlangstreichenden Luft.
Rückblickend betrachtet, mußte es sich wohl um einen Schock gehandelt haben, in den Lily verfallen war, einen Kollaps des Herz-Kreislauf-Systems nach dem Wirbelsturm, der Aufregung, dem Chaos, dem Krach, den knarrenden und knackenden Bäumen, nach dem Regen, der auf uns niederschoß. Wie sonst hätte ich am anderen Morgen annehmen können, sie sei tot? Ja - ich war es, der sie lebend beerdigt hatte, aber ich war es auch, der sie lebend wieder geborgen hat. Ich sehe das Bild noch heute vor mir, und es wird mich in alle Ewigkeit begleiten, der Anblick, der sich mir bot, als ich mit der Schuhspitze die Garbe Palmblätter zur Seite schob.
Fasten Seatbelt Sign on. Frankreich, ein braungelber Teppich, durchzogen von Straßen, die Dörfchen verbindend, die wie Fliegendreck über die Landschaft verstreut sind. Endlich der Montblanc, im Dunst wie so oft, trotzdem mächtig, königlich und erhaben, dann die ganze Alpenkette, die Firne, das Finsteraarhorn, der Eiger, unvermittelt aus der Landschaft ausbrechend und knotig nach Osten hin abklingend. Linkskurve. Die Stadt Basel mit den sich nach Norden auflösenden, gut gezeichneten Rheinläufen, die Kehre über Süddeutschland, die sanft angeschneiten Hügelkuppen, ein Stausee. Rechtskurve. Überflug des Rheins, die Wirbel, aus denen man die Fließrichtung ableiten könnte, wenn man sie nicht schon wüßte. Landeklappen, ausgefahren wie dicke Unterlippen. Das Fauchen unter den Tragflächen. Das Scheppern aus der Küche - hundert Deckel, Türchen, Schubladen und Cateringtrolleys, die noch vor der Landung verstaut und festgemacht sein wollen. Immer mehr Landschaft. Waldfetzen zerspringen in einzelne Bäume, ein Wildbeobachtungsposten auf Höhe der Baumkronen, die Ruinen einer Burg, Spielzeugautos, ein Traktor mit einer Staubfahne, noch mehr Landeklappen, Dächer, dazwischen Verkehr, Schindeln, das ausgefahrene Fahrwerk. Der Parkplatz der Schaulustigen, der Kebab-Stand von oben, die Kette grüner Lichter, die das Pistenende markieren, das pflaumige Aufsetzen, das Auslaufen, kein Umkehrschub, sondern ein allmähliches Verlangsamen, als würden zweihundertdreißig Tonnen elastisch abgebremst. Zürich.
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Zurück in der Villa. Ich reiße die Türen und Fenster auf, flute die Zimmer mit Novemberluft. Sonst alles noch so wie vor drei Jahren, die Aussicht, die Möbel, die Kunst an den Wänden (Gursky, Ruoff, Damien Hirst), die Bücher (selbst Ulysses auf dem Nachttischchen), alles in bester Ordnung, nur auf dem Kiesplatz vor dem Haus haben die liegengebliebenen Kastanienblätter einen glitschigen Teppich gebildet. Auf dem Küchentisch das Durcheinander von Fotos, hastig ausgebreitet, Aufnahmen in Schwarzweiß, unscharf, Abzüge von Videoaufnahmen, so scheint es, Fahndungsbilder mit eingeblendetem Datum und Uhrzeit (fast drei Jahre altes Material), Bilder, die ich kenne und nicht kenne, auch ein polizeiliches Fahndungsfoto von Josephine. Dazu Unterlagen der bankinternen Sicherheitsabteilung, Rapporte, unterzeichnet von einem Herrn Renfer, an den ich mich knapp erinnern kann, und Berichte der Kantonspolizei in einem holprigen Deutsch - die Verfolgung quer durch Frankreich hindurch und dann weiter durch Spanien und Portugal - die letzte Sichtung der Verschollenen im Jachthafen Doca de Belem in Lissabon -, die Bestätigung, daß die Fahndung eingestellt worden sei, Übergabe der Dokumente an das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA), also in die Hände der Diplomaten. Ich wische
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