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Himmelreich

Himmelreich

Titel: Himmelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf Dobelli
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fest. Ich höre, wie eine Palme knickt. Bald darauf saust eine weitere Palme auf das Gemäuer nieder. Im Leuchtkegel zu sehen: Äste, Blätter, Baumstrünke, alles in aufgewühlter Bewegung, die zertrümmerte Mauer, ab und zu ein Brett oder eine Pfanne, scheinbar in der Finsternis schwebend, aber vielleicht ist es Einbildung, die horizontale Gischt wie eine Bildstörung. Weit reicht sie nicht, meine Taschenlampe, und was sie zeigt, ist nicht erhellend, ich schalte sie aus, um Batterie zu sparen, dann schalte ich sie wieder ein, dann wieder aus. Die ganze Nacht so. Einmal saust ein Baumstamm auf uns nieder, reißt Sperrholzplatten und ein Büchergestell mit. Ich höre es nur, das Aufschlagen auf dem Wohnzimmertisch. Ich will wissen, ob Josephine noch lebt. Sie sagt kein Wort. Ich kneife sie. Ihr Körper reglos.
    Als ich mich am Morgen in der ersten Tageshelle aus der Umarmung löse, meinen Kopf einigermaßen aufrichte, sehe ich: die Mauern unseres Hauses, der Kühlschrank in Trümmern, das Sofa, tropfend und von Geäst übersät, sonst ist alles weg. Das Dach, die Bücher, die Stühle - alles weg. Von der Backstube ist ebenfalls nur noch das Gemäuer vorhanden. Über allem liegt ein Urwald von Blättern, Ästen und Gebüsch. Jetzt regnet es nur noch. Josephine weigert sich zu schauen. Sie hat ihren Körper um Lily geschlungen. Josephines Gesicht in Wolldecken. Ich lege meine Hand auf ihren Rücken und spüre keinen Atem. Ich packe sie an den Schultern und will sie wachrütteln. Ihr Körper ist steif. Ich zerre die Tücher weg, die Wolldecken, alles, worin sie sich eingewickelt hat, ich reiße alles weg, den ganzen verdammten Kokon, bis sie leicht vornübergeneigt dasitzt, in ihrem olivgrünen Frühlingsrock und T-Shirt - als Tote. Lily aus ihren steifen Armen halb auf die Schenkel gerutscht. Auch sie reglos. Die Verletzung an Josephines Hinterkopf, jetzt sichtbar, das Blut, schon teilweise vertrocknet, das von Blut verklebte Haar. Splitter von Palmrinden in ihrem Haar.
    Und Lily - ich hebe sie auf, trage sie einfach herum, in meinen Armen, rede mir ein, es wäre nichts geschehen, rede ihr lebloses Gesicht an, ich rede die ganze Zeit laut mit ihr, ich weiß nicht, was ich diesem Kind erzähle. Lily zeigt keine auffallenden Verletzungen, keine Schrammen, Schnittwunden oder Beulen, vielleicht rede ich darum wie zu einer Lebenden, ich erzähle ihr Geschichten vom Meer oder von der Bank, ich weiß nicht, was ich rede.
    Einmal glaube ich, daß sie noch lebt, ein Zucken auf ihrer Stirn... Ich hätte mich am liebsten per Knopfdruck von meiner Existenz befreit.
    Ich ließ mich in den Sand fallen und krümmte mich um Lilys Körper herum. So blieb ich liegen. Ich weiß nicht, wie lange.
    Noch am gleichen Tag beerdigte ich Lily und Josephine.
    Für Lily hob ich ein kleines Grab aus, staffierte es mit Kissen aus, bettete den Körper hinein und deckte es mit einer Garbe Palmblättern zu. Ich riß Blütenzweige von einem Lianenstrauch und steckte sie in den Sand. Josephine ließ ich einfach schlafen. Im Sand.
    »Staub ist das Fleisch der Zeit. Brodsky - Ufer der Verlorenen.« Ich höre ihre Stimme noch immer. Und immer wieder: »Dann muß ich dich halt entführen.« Vielleicht ist es wahr: die Stimme als das einzige, was es mit dem Tod aufnehmen kann.
    Josephine ging einfach so, ohne sich zu verabschieden. Sie ging, wie sie in mein Leben gekommen war.
    Da waren die Pillen und Schlafmittel aus dem Hotel-medikamentenkasten. Paradise Island, Nassau. Ich schüttete sie aus allen Dosen direkt in meinen Mund und schluckte mit Salzwasser.
    Ich ging zurück zu dem, was einmal unsere Backstube war, um Balken für ein Kreuz zu zimmern.
    Am Strand unten: das schlaffe, entfärbte Meer. Große, weiße Scherben, die einmal ein Segelboot waren. Lesbar, was einmal das Heck gewesen sein mußte: NOVA CASA. Das erste A hing verdreht als winziger nach oben geöffneter Trichter. Das V war ganz weg. Trümmer trieben in der Bucht, Holzstücke, ein Stuhl, Bücher, ich fischte eines heraus: ein aufgeweichter Ulysses.
    Das Holzkreuz steckte ich in den Sand. Ich suchte nach meinem alten Anzug, meiner einzigen feierlichen Kleidung auf dieser Insel, und fand ihn, zusammengefaltet in einem Koffer, den es unter einen Haufen abgeknickter Palmblätter geschwemmt hatte. Ich zog ihn aus dem Koffer und hielt ihn hoch. Er kam mir vor wie eine fremde Haut, wie das nasse, tropfende Fell einer seltsamen, nadelgestreiften Tierart. In der rechten Hosentasche fand ich meine

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