Himmelreich
es zusammen und werfe es weg.
Lily in ärztlicher Betreuung den ganzen Winter hindurch. Kinderspital der Universitätsklinik Zürich. Die Entzündung der Herzklappen (Endokarditis) ist mit Antibiotika nicht zu stoppen, das haben eine Herzkatheteruntersuchung und mehrere Ultraschalluntersuchungen bestätigt. Ein Medikamentenwechsel hat ebenfalls nicht überzeugt. »Tatsache ist: Eine Operation ist unvermeidlich geworden«, meint der Arzt. »Unvermeidlich, aber nicht dringlich, ich möchte dem kleinen Körper Zeit lassen, sich noch etwas weiterzuentwickeln, bevor wir den Eingriff wagen.«
Ab und zu ein Spaziergang. Reif auf den Feldern. Gefrorener Nebel. Stillstand. Wunsch nach Kaminfeuer den ganzen Tag. Lily in der Bauchtasche. Ich genieße es, das warme Bündel unter meiner Jacke zu spüren, ihr Kopf draußen in der eisigen Kälte.
An meinem Schal klebt Atem in kristalliner Form. Die gefrorenen Pfützen auf den Feldwegen. Die hauchdünne Schicht aus Eis. Wenn man darauf tritt, zerspringt sie wie Glas. Klirrend. Gefrorene Erde, glitzernd und hart. Abdrücke von Schuhprofilen im Lehm - auch sie wie gemeißelt. Der Feldweg verliert sich nach hinten und nach vorne. Bisweilen Ahnung eines Bauernhauses in der Ferne. Das Geräusch eines Traktors. Dann wieder Stille. Nur das rhythmische Knacken der eigenen Schritte.
Ich sitze oft am Fenster. Ich kann etwa eine Stunde am Stück lesen, dann werde ich müde und sehe in die gelbe Bewegung des Nebels im Vier-Uhr-Nachmittagslicht hinaus. Dann lese ich weiter. Ich lese viel, fresse mich durch den Bücherstapel hindurch, nicht gierig, sondern so, wie wenn man Zuckerwatte ißt. Bellow, Roth, Cechov, Faulkner, Proust, Ozick - alles, was mir Josephine angetragen hat. Zum ersten Mal in meinem Leben Zeit für jene gewöhnliche Beschäftigung, die man Lesen nennt. Ich entdecke Welten in jedem Satz.
Das gibt es auch: Tage ohne Nebel, dafür handbreit Schnee auf den Dächern. Scheibenkratzen. Luft wie Kristall.
Lily kann jetzt schon ziemlich gut laufen. Es macht mir Freude, ihr zuzusehen, wie sie die Treppenstufen nimmt, vor allem die oberste, von der sie sich wieder aufrichten muß. Sie rennt geschickt, auch ein wenig stolz vielleicht. Sie spricht, die ersten holprigen Sätze, und ich entscheide mich, fortan mit ihr Hochdeutsch statt Mundart zu reden. So hätte sie es auch von Josephine gelernt. Ihre Augen sind groß und dunkel und rätselhaft, und wenn sie mich anschaut, dann in der Farbe von Gefieder, blauschwarzgrün. Noch bemühe ich mich, möglichst wenig an ihre Mutter zu denken, wenn ich in diese Augen schaue.
Frühling. Dann die ersten Sommertage. Lärmen der Vögel. Himmel wie Tequila. Boote, zu Hunderten, weiße Punkte, wahllos über den Zürichsee verstreut. Es sieht aus, als würden die Segelboote an unsichtbaren Schnüren befestigt über das Wasser gezogen. Das Surren von Motorbooten, ihr dumpfes Aufklatschen mit dem Bug. Aufgeregte Oberfläche, selbst am Ufer. Jenseits des Sees immer wieder Land, das man kennt, ein Berg, ein Hügel, den man bestiegen hat, oft allein und oft nur aus Langeweile. Das schmiedeeiserne Gitter unseres Balkons zerschneidet Seeoberfläche im Muster des 19. Jahrhunderts. Blütenstaub auf den Metallstühlen. Ich wische ihn mit der Hand weg. Jetzt klebt er an den Fingern. Die Silhouette eines Segelflugzeugs an der Wolkenbasis. Seine perfekten, stillen Kreise. Ich öffne eine Flasche Wein - mitten am Tag - und sehe zu, wie der Wein im Glas verdunstet. Der Abend kommt nicht als Schatten, sondern als Schleier, der unmerklich über die Welt fällt, ein Schleier nach dem anderen. Ansonsten schwarz. Stille. Das Glucksen von dort, wo man den See vermutet.
Ebenfalls in diesem Sommer nehme ich meine ersten Segelstunden. Lange genug habe ich mit Blick auf diesen See gewohnt. Ich lerne, wie man ein Segel aufschießt, was eine Klampe ist, den Unterschied zwischen Fall- und Schotleine, wie man die Wende segelt, das Mann-über-Bord-Manöver. Alles sehr natürlich, sehr intuitiv. Das Wasser kräuselt sich wie ein riesiges Bärlauchbeet, während ich Figur um Figur übe. Ich habe Zeit wie noch nie.
Wunsch, einmal im Leben über den Atlantik zu segeln.
Im Herbst die Operation. Einweisung an einem Samstag. Draußen die letzten Zungen des Sommers. Wir nehmen den Umweg über den General-Guisan-Quai. Der See, schattenblau, das Gewirr der Segelboote auf dem See. Ich umrunde den Bellevue-Platz einmal, zweimal, dreimal, aus bloßer Lust. Dann die Rämistraße hinauf
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