Himmelsdiebe
Laura streifte die Schuhe ab und spitzte die Ohren. Sollte auch sie den Schlüssel umdrehen? Wenn sie abschloss, war er gezwungen anzuklopfen. Dann konnte sie sich so viel Zeit nehmen, wie sie wollte, um ihm zu öffne n – wenn überhaupt. Die Vorstellung, ihn zappeln zu lassen, gefiel ihr. Allerdings, wenn sie abschloss, konnte es sein, dass er sie für eine prüde kleine Klosterschülerin hielt und auf der Stelle kehrtmachte.
Was zum Teufel sollte sie tun?
Als sie das Bett aufschlug, hörte sie durch die Wand Schritte. Offenbar hatte er sich noch nicht schlafen gelegt. Während nebenan die Dielen knarrten, wechselten in Laura mit jedem seiner Schritte Bangigkeit und Mut.
Nein, sie würde die Tür nicht abschließen. Sie löschte das Licht, zog sich nackt aus und schlüpfte unter die Decke.
Allmählich gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit. Sie spürte das raue Leinen auf ihrer Haut, und eine wunderbare Erregung durchrieselte ihren Körper. War das alles wirklich und wahrhaftig wahr? Sie in einem einsamen Gasthof, zusammen mit Harry Winter? Oder träumte sie das alles nur und würde gleich in ihrem Mädchenzimmer aufwachen, in dem düsteren, bedrohlichen Palast ihrer Eltern?
Silbriges Mondlicht schien in ihre Kammer, sanft bauschten sich die Vorhänge im Nachtwind vor dem Fenster. Vom Strand wehte das Rauschen der Brandung herauf, während nebenan immer noch die Bohlen unter den Schritten dieses Mannes knarrten, den sie erst seit wenigen Stunden kannte.
Wer war dieser Mann? War er wirklich der Große Zauberer, der sie befreien würde? Aus ihrem Körper und ihrem kleinen, erbärmlichen Leben? Oder war er ein gemeiner Sittenstrolch, wie ihre Mutter sagte?
Mit leisem Rasseln schlug irgendwo im Haus eine Uhr. Wohlig gähnend zog Laura sich die Decke über die Schultern. Sie war so müde, dass sie die Augen nicht länger offenhalten konnte. Seit zwanzig Stunden hatte sie nicht mehr geschlafen. Die Bilder des vergangenen Tages kehrten zu ihr zurück, wie aus einer anderen Welt. Der Schleiertanz der Elf e … Die Wehmut im Gesicht der Frau, als sie den Priapus küsst e … Diese unglaublich hellen, fast kalten blauen Augen, mit denen Harry Winter die Menschen seziert e … Seine Reden über Dada und Got t …
Die Erinnerungen hallten in Laura nach wie in einem neuen, ungebrauchten Musikinstrument, dem man die allerersten Töne entlockt hatte. Plötzlich wurde es ihr zu heiß, ungeduldig streifte sie die Decke vom Leib. Sie hatte gehört, erotische Anziehung sei ein chemischer Vorgang, doch Chemie war in Wahrheit Alchemie, und damit kannte ein Zauberer sich aus. Sein Gelübde fiel ihr ein. Würde er es für sie brechen? Sie wagte kaum, es sich vorzustellen, und konnte doch an nichts anderes denken. Sie würde sich fühlen wie eine Königin.
»Laur a …?«
Leise pochte es an der Tür. Erschrocken fuhr sie im Bett auf. Draußen dämmerte bereits der neue Tag.
War sie etwa eingeschlafen?
»Laur a …«
Während er ihren Namen wiederholte, öffnete er einen Spalt weit die Tür. Laura biss sich auf die Lippe. Warum ertönten keine Fanfaren? Warum wurden keine Trommeln gerührt? Zitternd griff sie nach dem zerknüllten Laken, um ihre Blöße zu bedecken. Doch kaum hatte sie die Hand gehoben, ließ sie sie wieder sinken. Nein, wenn sie durch diesen Mann zur Königin werden sollte, wollte sie ihn wie eine Königin empfangen. Während eine Gänsehaut ihren ganzen Körper überzog, richtete sie sich mit untergeschlagenen Beinen auf ihrer Matratze auf und blickte erhobenen Hauptes zur Tür.
»Schämen Sie sich nicht?«, zischte er durch den Spalt. »Ich weiß, dass Sie nackt sind.«
Laura holte tief Luft. Da ging die Tür auf, und Harry trat herein. Doch statt sie anzuschauen, bedeckte er mit der einen Hand seine Augen und warf ihr mit der anderen den Staubmantel zu, den sie bei der Ankunft an der Rezeption abgelegt hatte.
»Ziehen Sie sich bitte an«, sagte er. »Ich muss Ihnen etwas zeigen. Ich warte so lange draußen.«
Damit trat er wieder hinaus auf den Flur und schloss die Tür hinter sich.
»Mistkerl!«
Leise fluchend griff Laura zu ihren Kleidern.
Von wegen Sittenstrolc h …
6
Harry Winter wartete draußen in der Morgendämmerung. Eingehüllt in sein schwarzes Cape, lehnte er an dem schlammbespritzten Vauxhall seines Galeristen und rauchte eine Zigarette.
»Oh, eine Nonne«, sagte er mit seinem spöttischen Lächeln, als sie in der Tür erschien, und schnippte die Zigarette fort. »Da lacht
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