Himmelsdiebe
Herbst, die Damen mussten ihre Dekolletés mit wärmenden Nerzen verhüllen, um keinen Husten zu riskieren, bevor die Ballsaison anfing.
»Kommst du noch mit in die Akademie?«, fragte Geraldine, während die Garderobiere den beiden jungen Frauen die Mäntel reichte. »Professor Bonenfant gibt einen Empfang. Er meint, Harry Winter würde vielleicht auf einen Sprung vorbeischauen.«
Laura zögerte einen Moment. Dann streifte sie ihren Mantel über und schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte sie. »Ich hab noch einen Termin. Du weißt schon«, fügte sie hinzu, als ihre Freundin nicht gleich verstand, »beim Arzt.«
Geraldines Gesicht verdüsterte sich. »Immer noch wegen derselben Sache?«
»Ja«, nickte Laura, dankbar, dass Geraldine das hässliche Wort nicht ausgesprochen hatte. »Immer noch wegen der Sache .«
Geraldine holte tief Luft. »Ist es so schlimm?«
Bevor Laura antworten konnte, zerschnitt die verzweifelte Stimme einer Frau den Stimmenteppich im Foyer.
»Du darfst mich nicht verlassen!«, rief sie. »Wir gehören zusammen! Auch wenn du nicht mehr mit mir schläfst!«
Die Frau hatte französisch gesprochen, doch so viel Französisch verstand auch Laura. Verwundert drehte sie sich um. In der Glastür, die den Ausstellungsteil der Galerie mit dem Vorraum verband, stand Harry Winter. Vor ihm am Boden kniete die Elfe. Sie trug jetzt ein hautenges feuerrotes Kleid, das vom Busen bis zu den Knien aufgeschlitzt war und unter dem sie ebenso deutlich erkennbar nackt war wie zuvor unter ihrem durchsichtigen Seidengewand. Ihre Lockenpracht war zerzaust, die verängstigten Augen standen voller Tränen. Während die übrigen Ausstellungsgäste so taten, als wäre nichts, um sich mit gesteigerter Emsigkeit ihrer Garderobe zu widmen, konnte Laura nicht den Blick von dieser Frau lassen, die mit beiden Armen Harry Winters Beine umklammerte wie eine orientalische Sklavin.
»Bitte, lass mich nicht allein! Ich liebe dich! Mehr als mein Leben!«
»Warum weinst du?«, erwiderte Harry Winter, gleichfalls auf Französisch, während er behutsam ihre Hände nahm, um ihr vom Boden aufzuhelfen. »Du hast alles von mir gelernt, was Liebe ist.«
»Aber ich muss dir etwas sagen! Etwas Schönes!«
»Nein, Florence. Unsere Zeit ist vorbei. Du bist jung und hübsch, du kannst dir die Männer aussuchen. Also, steh auf und mach dich an die Arbeit!«
Laura war entsetzt. Wie konnte dieser Mann in der Öffentlichkeit über so intime Dinge reden? Gleichzeitig war sie fasziniert von seiner Ruchlosigkeit. Was für ein freier Geis t … Während sie noch versuchte, ihre Empfindungen zu sortieren, kehrte Harry Winter der Elfe den Rücken und kam auf sie zu.
»Ich werde zwar von irgendeinem Professor erwartet«, sagte er, jetzt wieder in seinem grauenhaften Englisch. »Doch lieber würde ich den Abend mit Ihnen verbringen, Miss Paddington. Darf ich Sie zum Essen einladen?«
Laura dachte keine Sekunde nach. »Aber natürlich«, sagte sie. »Vorausgesetzt, es ist kein französisches Lokal.«
»Oh, Sie hassen gutes Essen? Wunderba r – ich auch!«
Mit einer Verbeugung bot er ihr seinen Arm an. Doch Geraldine hielt sie zurück.
»Hast du vergessen, dass du noch einen Termin hast?«
Laura sah erst ihre Freundin an, dann Harry Winter, der sie mit spöttischer Aufmerksamkeit musterte, ohne sich im Geringsten um die Elfe zu kümmern, die gerade mit lautem Schluchzen zurück in die Galerie verschwand. Laura spürte, wie ihr Herz jubelte, obwohl sie gleichzeitig vor Angst kaum sprechen konnte. Sie wollte, sie musste diesen Mann kennenlernen! Er war der Mann, auf den sie schon immer gewartet hatte.
»Nun, Miss Paddington?«
»Der Arzt soll sich gedulden«, beschied sie ihrer Freundin. Dann wandte sie sich zu Harry Winter. »Was stehen wir hier noch herum?«, fragte sie und hakte sich bei ihm unter. »Gehen wir! Ich kenne ein hervorragendes Lokal, ganz in der Nähe. Mit so schlechtem englischen Essen, dass wir ungestört von irgendwelcher Kauakrobatik miteinander reden können.«
4
Das Restaurant war ein übervoller, lauter Pub, in dem es wahlweise Fisch und Chips oder Roastbeef mit Minzsoße gab. Harry und Laura hatten sich für Fisch und Chips entschieden. Eine gute Wahl. Obwohl sie schon über eine Stunde am Tisch saßen, hatten sie keine Minute mit Essen vergeudet.
»Aber Sie haben ja gar nichts angerührt«, sagte der Kellner, als er ihnen den Kaffee brachte.
Harry leerte seinen Teller in einen Sektkübel, ohne Laura auch nur eine
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