Himmelsdiebe
einer Verbeugung stellte der Fremde sich vor. »Dr. Retroverria.«
Freundlich lächelte er ihr zu. Auch Laura versuchte zu lächeln. Dabei schaute er mit seinen grauen Augen direkt in ihre Seele.
»Ich glaube, Sie werden nicht mehr lange hier bleiben«, sagte er. »Wenn Sie erlauben?« Er trat an ihr Bett und löste die Riemen, mit denen sie festgebunden war. »Ab heute werde ich mich um Sie kümmern.«
19
Eine Blondine mit schwindelerregend hohen Absätzen und hinreißender Figur führte Harry zum Büro des Sou-Präfekten. Doch er war viel zu nervös, um ihre Vorzüge zu würdigen. Er war nicht mal imstande, das bezaubernde Lächeln zu erwidern, mit dem sie versuchte, ihn aus der Reserve zu locken. Wie gebannt starrte er auf den Namen, der in goldenen Lettern an der Tür geschrieben stand: Maurice Philibert .
Was würde passieren, wenn er diese Tür durchschritt? Würde er die Papiere bekommen, die er brauchte, um nach Lissabon zu fahren, zu Laura? Oder würde man ihn verhaften?
»Bitte treten Sie ein«, sagte die Blondine. »Sie werden erwartet!«
Auffordernd nickte sie ihm zu und klimperte dabei mit ihren langen, schwarzen Wimpern. Harry warf ihr einen entschuldigenden Blick zu. Dann rückte er seine Krawatte zurecht, räusperte sich und trat durch die Tür. Maître Simon hatte herausgefunden, dass der Sou-Präfekt ein Onkel zweiten Grades von Florence war. Für eine Spende von dreihundert Francs, angeblich zugunsten der Feuerwehr von Ucel, hatte er sich bereit erklärt, sich um den Fall zu kümmern.
»Wie viele Frauen haben Sie eigentlich schon auf dem Gewissen, Monsieur Winter?«
Harry sah zuerst nur einen leeren Schreibtisch und dahinter eine Wand mit der Trikolore sowie mehreren eingerahmten Fotos von Maréchal Pétain. Irritiert drehte er sich um. Monsieur Philibert kam hinter einem Paravent hervor, ein untersetzter Mann mit lichtem Haar, der kurz vor der Pensionierung stand. Offenbar hatte er sich gerade gewaschen, er trocknete sich noch die Hände.
»Ich habe mit Florence telefoniert«, sagte er, ohne Harry einen Platz anzubieten, und hängte das Handtuch an einen Haken. »Es ist eine Schande.«
»Oh, geht es ihr nicht gut?«, fragte Harry.
»Wundert Sie das? Nach allem, was Sie ihr angetan haben? Sie ist so verzweifelt, dass sie in ein Kloster gegangen ist. Eine Frau, die im Geist der Aufklärung erzogen wurde!«
Harry musste schlucken. Das war nicht gerade der Empfang, den er sich erhofft hatte.
»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie leid mir das tut. Bitte richten Sie ihr meine allerherzlichsten Grüße aus. Allerdings, wenn ich das hinzufügen darf, sie hat schon früher ein erstaunlich reges Interesse an spirituellen Dingen gehabt.«
»Sparen Sie sich Ihr Geschwätz!«, fuhr Philibert ihm über den Mund. »Ich weiß, was für ein gewissenloser Kretin Sie sind. Von Ihnen aus könnte Florence verrecken, es würde Sie nicht die Bohne kümmern.« Er trat an einen Aktenschrank und betätigte das Schloss. Mit lautem Ratsch schnellte die Rolltür in die Höhe. »Ich wundere mich wirklich über Ihren Mut«, sagte er, während er nach einem Ordner griff. »Dass Sie es überhaupt wagen, hier aufzutauchen! Haben Sie noch nie etwas von Paragraf 19 des Waffenstillstandsvertrags gehört? Auslieferung auf Verlangen?«
Philibert schlug den Ordner auf und fing an zu blättern. Harry fühlte sich, als hätte er mehrere Ohrfeigen gleichzeitig bekommen. Wie ein Idiot starrte er auf die Bilder an der Wand. Eines zeigte Maréchal Pétain, wie er Adolf Hitler die Hand schüttelt e … Plötzlich wusste er, wonach der Sou-Präfekt suchte: die Namensliste der Deutschen, die die Nazis zur Auslieferung beantragt hatten! Angstschweiß brach ihm aus. War er wahnsinnig gewesen, hierherzukommen? Genauso gut hätte er sich an die Gestapo um Hilfe wenden können!
»Haben Sie was gesagt?«, fragte Philibert.
»Nein, ic h … ic h …«, stotterte Harry.
»Ich-ic h … ich-ic h …«, äffte der Sou-Präfekt ihn nach. »Haben Sie einen Sprachfehler, oder was?«
Wütend knallte er ein Dokument auf den Schreibtisch. Es war mit einem Foto versehen. Als Harry das Foto sah, begann sein Herz zu galoppieren wie ein fliehendes Pferd. Sollte es wirklich möglich sein, das s …? Das Foto gehörte ihm selbst. Er hatte es Maître Simon gegeben, für seine Papiere. Er sah darauf aus wie ein Verbrecher.
»Los, unterschreiben Sie endlich.«
Harry wusste nicht, ob er wach war oder träumte. Er nahm den Füllfederhalter, der auf
Weitere Kostenlose Bücher