Himmelsdiebe
beantworten, die sie nicht beantworten wollten. Und Dr. Retroverria fragte ihr die Seele aus dem Leib. Das Schlimmste an seinen Reden war, dass sie langsam selber an sich zu zweifeln anfing, an ihren eigenen Sinnen, an allem, was sie hörte und sah. In ihrer Not nahm sie Zuflucht zu dem Zwerg an seiner Hand. Der Däumling zwinkerte ihr aufmunternd zu.
»Soll ich Ihnen meine Macht beweisen?«, fragte sie.
Dr. Retroverria hob überrascht die Brauen. »Ja, gerne.«
Laura richtete ihre Augen auf ihn. Während sie spürte, wie die Macht in ihr wuchs, schrumpfte Dr. Retroverria vor ihr wie die Soldaten, die sie in Sainte-Odile mit ihren Gewehren bedroht hatten.
»Na, was sagen Sie jetzt?«, fragte sie triumphierend, als er nur noch halb so groß war wie sie.
Dr. Retroverria schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, ich merke nicht das Geringste.«
»Aber sehen Sie denn nicht, wie klein Sie sind?«
»Da müssen Sie sich bei meinen Eltern beschweren«, erwiderte er mit seinem ewig freundlichen Gesicht. »Ich habe mein ganzes Leben darunter gelitten, dass ich zu klein geraten bin. Vor allem als junger Mann. Meine Partnerin in der Tanzschule war einen ganzen Kopf größer als ich. Aber warum schauen Sie immer auf meine Hand?«
»Ich schaue gar nicht auf Ihre Hand, sondern auf Ihren Däumling. Ich würde mich lieber mit ihm unterhalten als mit Ihnen. Er glaubt nämlich, was ich sage.«
»Ach, meinen Sie den?«
Dr. Retroverria hob die Hand, die plötzlich wieder so groß war wie eine ganz normale Männerhand. Laura biss sich auf die Lippen. Verdamm t – wo war der Zwerg geblieben? Alles, was sie sah, war ein verkrüppelter Daumen.
»Was empfinden Sie, wenn Sie an Harry denken?«, wollte Dr. Retroverria wissen.
Statt zu antworten, senkte Laura den Blick. Die Puppe in ihrem Schoß hatte die Schenkel weit gespreizt, als läge sie nackt in einem Bett und warte auf ihren Geliebten.
»Sie denken immerfort an ihn, nicht wahr?«
Laura nickte. »Es tut so fürchterlich weh.«
»Es tut immer weh, wenn eine Liebesbeziehung zu Ende geht. Aber gerade darum müssen Sie aufhören, an Harry zu denken.«
»Das kann ich nicht.«
»Wenn Sie nicht bereit sind, sich von Harry zu trennen, werden Sie nie gesund.«
»Dann bleibe ich lieber krank.«
»S o – sind Sie denn krank?«
Nervös rutschte Laura auf der Bank hin und her. Wo zum Teufel blieb Geraldine? Sie hatte ihr versprochen, sie abzuholen! Während Dr. Retroverria sie nicht aus seinem Blick entließ, verrenkte Laura sich den Hals, um ihre Freundin irgendwo im Park zu entdecken. Doch von Geraldine war weit und breit keine Spur.
»Haben Sie mal daran gedacht, mit einem anderen Mann zu schlafen?«, fragte Dr. Retroverria plötzlich.
Laura schüttelte heftig den Kopf.
»Geben Sie es ruhig zu«, sagte er. »Ich habe gestern gesehen, wie Sie einen Wärter angeschaut haben. Ich glaube, es war Pepe. Er scheint Ihnen zu gefallen.«
Laura spürte, wie sie rot wurde. »Er ist der einzige Freund, den ich hier habe«, sagte sie leise.
»Und was ist mit mir?«, erwiderte Dr. Retroverria. »Ich bin auch Ihr Freund. Aber mich haben Sie nie so angeschaut.«
»Sind Sie mir deshalb böse?«, fragte Laura. Fast hatte sie ein schlechtes Gewissen.
Dr. Retroverria lachte laut auf. »Nein, um Gottes willen! Was sollte eine junge schöne Frau wie Sie mit einem alten Mann wie mir schon anfangen?«
Laura schielte von der Seite zu ihm herüber. »Sie sind auch nicht viel älter als Harry.«
»Ja, das stimmt«, sagte Dr. Retroverria, nun wieder ernst. »Harry ist wohl nur wenig jünger als ich.« Eine lange Weile dachte er nach. Dann fragte er: »Warum nennt er Sie eigentlich seine Windsbraut?«
Als hätte man ihr eine Spritze verpasst, sprang Laura auf. »Was fällt Ihnen ein, mich so zu nennen?«
»Nicht ich habe Sie so genannt«, erwiderte Dr. Retroverria ruhig, »sondern Harry. Ich habe ihn nur zitier t – er hat den Begriff für Sie erfunden. Allerdings würde ich gern wissen, warum.«
»Das geht Sie nichts an! Niemand geht das was an!«
Dr. Retroverria nahm seine Brille ab und schaute zu ihr auf. Laura fühlte sich plötzlich, als wäre sie nackt. Dieser Mann wollte das Geheimnis zerstören, das sie umfing. Böse knurrte sie ihn an, um sich vor ihm zu schützen. Doch sie spürte, wie ihre Macht an ihm zerschellte. Ohne sich im Geringsten beirren zu lassen, drang er immer weiter mit seinen grauen Augen in sie ein. So tief, dass sie es nicht länger aushielt.
»Scheren Sie sich zum
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