Himmelsdiebe
Die Collage würde solchen Eindruck auf sie machen, dass sie es sich als Ehre anrechnen würde, ihm helfen zu dürfen. Als er die Treppe hinunterlief, überlegte er kurz, wie er seinen Fauxpas von Paris wiedergutmachen konnte. Am besten vielleicht mit einem kleinen, selbstkritischen Scherz. »Wenn Sie mir bitte folgen würden? Die Kunst-Abteilung befindet sich im zweiten Stoc k …« Doch als er die Halle betrat, war von Debbie Jacobs keine Spur. Anstelle der amerikanischen Sammlerin erwartete ihn eine englische Gouvernante.
»Geraldine? Wo kommen Sie denn her?«
»Lauras Vater hat einen Detektiv beauftragt, Sie aufzuspüren, und mich hierhergeschickt.«
»Oh, ich wusste gar nicht, dass Mr. Paddington solche Sehnsucht nach mir hat«, erwiderte Harry. »Mein Gott, was freue ich mich, Sie zu sehen«, sagte er und drückte ihre Hand. »Haben Sie Nachrichten von Laura?«
Geraldine schüttelte den Kopf. »Leider nein. Ihre Eltern und ich hatten gehofft, Sie wäre hier.«
»Abe r … aber ich dachte, sie wäre bei Ihnen. Sie wollten doch zusammen nach Lissabon!«
»Da waren wir auch.«
»Und was machen Sie dann hier?«
»Sie hat sich aus dem Staub gemacht.«
»Wer? Laura? In Lissabon?«
»Ja, sie ist über Nacht aus unserem Hotel verschwunden, ohne irgendeine Nachricht. Seitdem hat kein Mensch mehr was von ihr gehört.«
»Verflucht noch mal! Warum haben Sie nicht besser aufgepasst?«
»Ach, Sie haben ja keine Ahnung, was alles passiert ist.«
»Dann spannen Sie mich nicht auf die Folter.«
»Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll«, erwiderte Geraldine. »Wir waren noch nicht an der spanischen Grenze, da hatte sie eine Art Nervenzusammenbruch, und ich musste sie in eine psychiatrische Klinik bringen.«
»Was sagen Sie da? Einen Nervenzusammenbruch? Jetzt aber der Reihe nach.«
Harry forderte sie auf, Platz zu nehmen. Als Geraldine anfing zu erzählen, traute er seinen Ohren nicht. Um Gottes wille n – das hatte Laura wirklich erlebt? Irgendwo im Niemandsland der Pyrenäen? Ohne ihn an ihrer Seite? Harry war bestürzt, entsetzt, verzweifel t – und gleichzeitig zutiefst fasziniert. Geraldines Bericht mutete ihn an wie ein phantastischer Reisebericht. Seine Windsbraut hatte sich über alle Grenzen hinweggesetzt. Sie war auf der anderen Seite gewesen, dort, wo er selber noch nie gewesen wa r – im wahrsten und wirklichsten Reich der Imaginatio n … Plötzlich war ihm alles klar. Darum war Laura ihrer Freundin davongelaufen, um der Spießerwelt der Vernunft für immer zu entkomme n … Ihr Mut erfüllte ihn mit einer Bewunderung, die er gar nicht an sich kannte. Er musste so schnell wie möglich nach Lissabon, um sie zu finden. Sie musste ihm alles berichten, was sie erlebt hatt e – welche Dinge sie auf der anderen Seite gesehen, welche Erkenntnisse sie dort gewonnen, welche Wahrheiten sie erfahren hatte.
Er war so aufgeregt, dass er Geraldine kaum noch zuhören konnte. Erst als sie auf ihn zu sprechen kam, gelang es ihm, ihr wieder seine volle Aufmerksamkeit zu widmen.
»Der Arzt sagt, Ihre Verhaftung sei der Auslöser für ihren Zusammenbruch gewesen. Die Flucht in eine andere Welt sei die einzige Möglichkeit für sie gewesen, den Verlust zu verkraften.«
»Das hat der Arzt gesagt?« Harry fühlte sich geschmeichelt. »Ein kluger Mann.«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Geraldine. »Schließlich hat er sie als geheilt entlassen. Und dann ist sie plötzlich verschwunden.«
»Haben Sie den Arzt gefragt, wo sie seiner Meinung nach stecken könnte?«
»Ich habe natürlich in der Klinik angerufen, aber Dr. Retroverria hat auch keine Ahnung. Das Einzige, was er kategorisch ausschloss, war, dass Sie zu Ihnen zurückkehren würde. Darauf hat er seine ganze Bibliothek verwettet. Leider hat er damit recht behalten.«
Harry runzelte verwundert die Stirn. »Wie konnte er das wissen?«
Geraldine zögerte, bevor sie eine Antwort gab. Dann sagte sie: »Dr. Retroverria behauptet, Laura liebe Sie nicht mehr. Die Trennung von Ihnen sei das einzige Ziel seiner Therapie gewesen, und erst als Laura ihm versprochen habe, nicht mehr nach Ihnen zu suchen, habe er sie entlassen. Er meint, dass sie vermutlich irgendeinen anderen Mann kennengelernt hat, mit dem sie nun zusammen ist. Das sei in solchen Fällen die klassische Reaktion.«
3
Wie Blei hingen Dr. Retroverrias Schuhe an Lauras Füßen, als sie an Robertos Seite in der mexikanischen Botschaft von Lissabon vor den Standesbeamten trat, um dem Stierkämpfer ihr
Weitere Kostenlose Bücher