Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Himmelsdiebe

Himmelsdiebe

Titel: Himmelsdiebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
Vom Netzwerk:
Schein Laura gearbeitet hatte, all ihre Kraft in dieser Nacht verbraucht.
    Erschöpft trat sie von der Staffelei zurück, um ihr Bild anzuschauen. War es noch ein Teil ihres gemeinsamen Bildes mit Harry? Oder gehörte es ihr ganz allein? Dr. Retroverria hatte ihr geraten zu malen, wann immer die Gefühle sie zu überwältigen drohten. Das Bild war ein Doppelporträt von ihr und Harry. Flammenumlodert erschien er darauf wie ein Geis t – von seinem Körper war nur noch der Kopf zu sehen. Laura lag ihm gegenüber im Graben. Das Pferd, das sie selbst einmal gewesen war, hatte vor der flammenden Erscheinung gescheut und sie aus dem Sattel geworfen.
    Oder lag sie nur im Graben, weil sie auf Harry wartete?
    Aufmerksam betrachtete Laura ihr eigenes Konterfei. Vielleicht wusste es ja mehr als sie selbst und würde ihr Aufschluss geben. Doch ihr Abbild schien sich so wenig entscheiden zu können wie sie. Die Laura, die sie gemalt hatte, schaute Harry weder freundlich noch böse an, eher nachdenklich, skeptisch, ernst. Sie hatte die Ellbogen am Boden aufgestützt, und ihre Beine waren leicht gespreizt.
    Obwohl wahrscheinlich nur ein paar wenige Pinselstriche nötig waren, um die Antwort herauszufinden, zögerte Laura. War es vielleicht nicht ein und dasselb e – auf Harry zu warten und im Graben zu liegen?
    Plötzlich hörte sie nebenan ein leises Flüstern. Offenbar hatte Geraldine den Studenten aus Budapest mit auf ihr Zimmer genommen, um ihm den Abschied schwer zu machen.
    Die beiden Räume waren nur durch eine Verbindungstür voneinander getrennt. Obwohl Laura wusste, dass es sie nichts anging, spitzte sie die Ohren. Ganz deutlich war die Stimme ihrer Freundin durch die Ritzen zu hören.
    »Warten Sie einen Moment, Mr. Paddington. Ich hole nur was zu schreiben.«
    Mr. Paddington? Laura stockte der Atem. Auf Zehenspitzen trat sie näher an die Tür, um besser zu hören. Doch so angestrengt sie auch lauscht e – kein Ton von einem Studenten aus Budapest.
    Kein Zweifel, Geraldine war allein. Und telefonierte mit ihrem Vater!
    »Wie heißt die Klinik? St.-Elisabeth-Hospital ?«, fragte sie. »Ja, ich notier e … Greenmarket Square, Sydney, Australie n … Und der Arzt, der sie behandeln soll, ist Dr. Harold Simpson, Chefarzt der Psychiatri e … Richtig?«
    Laura trat von der Tür zurück. Sie hatte genug gehört, um zu wissen, was sie zu tun hatte.
    Sie musste das Hotel verlassen. Sofort. Ohne Geraldine.

Sechstes Buch
    Scharaden

Marseill e/ Lissabon
1940 – 1941

1
    1
    Die Villa Bel-Air war ein von Efeu überwuchertes Schloss, das eine halbe Wegstunde von Marseille entfernt im 19 . Jahrhundert erbaut worden war. Flankiert von mächtigen Platanen, erhob es sich inmitten eines verwilderten französischen Gartens, dessen Büsche und Hecken seit Jahren nicht mehr gestutzt worden waren: eine Festung auf einem Hügel, von dem aus man einen herrschaftlichen Blick über den Park, das Tal und das Meer hatte. Hier war, unter Leitung des amerikanischen Journalisten William Dry, das American Rescue Committee untergebracht, eine Hilfsorganisation, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, namhaften europäischen Künstlern und Intellektuellen, die vor den Nazis nach Frankreich geflohen waren, die Ausreise nach Übersee zu ermöglichen.
    Obwohl die Gelder so knapp waren, dass es sogar an Brennmaterial fehlte, um das wenige Essen oder auch nur Kaffeewasser auf dem sechs Meter langen Herd in der Küche zum Kochen zu bringen, war die Villa stets bis unters Dach voller Flüchtlinge, sodass zu jeder Tages- und Nachtzeit irgendjemand vor der Tür des einzigen Bads darauf wartete, endlich zum größten Luxusgegenstand des Hauses Zugang zu erlange n – einer Zinkbadewanne, die genauso aussah wie diejenige, in der zur Zeit der französischen Revolution Jean-Paul Marat gestorben war. Sobald ein Zimmer in Bel-Air frei wurde, zog sofort wieder jemand ein. Das Kommando unter den Bewohnern aber hatten die einstigen Habitués des Café Flore übernommen, die sich nun in der Villa um ihren Papst René Pompon scharten wie früher in ihrem Pariser Stammlokal. Während jeder auf die Zusendung irgendeines lebensnotwendigen Dokuments wartete, auf einen Pass, auf ein Visum oder eine Bürgschaft aus den Vereinigten Staaten, vertrieb man sich die Zeit in der Bibliothek, dem prächtigsten Raum im ganzen Haus, einem Salon mit vergoldeten Empire-Möbeln, scheußlichen Landschaftsbildern und einer mythologisierenden Bildertapete. Nach jeder Abendmahlzeit traf

Weitere Kostenlose Bücher