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Himmelsdiebe

Himmelsdiebe

Titel: Himmelsdiebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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Frau werden, nur damit alles seine juristische Ordnung hat. Schließlich lebe ich mit einem anderen Mann zusammen.«
    Obwohl er sich dafür schämte, fiel Harry ein Stein vom Herzen. Auf Mr. Jennings machte Mathildes Rede allerdings weniger Eindruck.
    »Ihre Redlichkeit in Ehre n – aber ich würde Ihnen dringend empfehlen, sich die Sache zu überlegen. In Frankreich bestimmen de facto die Deutschen, auch hier im unbesetzten Teil des Landes, und wie ich aus meinen Unterlagen ersehe, sind Sie Jüdin.« Er zögerte einen Moment, dann sagte er: »Haben Sie gehört, was die Nazis in Largentière angerichtet haben? In der psychiatrischen Klinik?«
    »Wie heißt der Ort?«
    »Largentière«, sagte Harry. »Laura und ich sind mal da gewesen . – Bitte klären Sie uns auf, Mr. Jennings. Was ist in der Klinik passiert?«
    »Ein Massaker«, sagte der Vizekonsul mit rauer Stimme. »Die Nazis haben sämtliche Patienten umgebracht. Egal ob Mann oder Frau, Kind oder Greis. Unwertes Leben, so nennen sie da s …«
    Das Schweigen, das plötzlich entstand, war so intensiv, dass Harry glaubte, das Ticken seiner Armbanduhr zu hören. Als wäre es erst gestern gewesen, sah er die Patienten von Largentière wieder vor sich, die kindliche Freude in ihren Gesichtern, die Begeisterung, mit der sie gemalt hatten. »Schwester Anna!«, hatte der mongoloide Junge immer wieder gerufen, sobald er irgendetwas in den zerfließenden Farben und Formen erkannte.
    »Wir sollten Mr. Jennings’ Rat befolgen«, hörte Harry sich plötzlich sagen. »Lass uns heiraten, Mathilde! Es geht doch nur darum, so schnell wie möglich hier rauszukommen. Und wenn du Bedenken hast wegen Car l – das brauchst du nicht, es ist ja nur zum Schein. Wir wollen die Ehe ja nicht vollziehen. Ich würde es mir nie verzeihen, wenn die Nazis eines Tage s …«
    »Auf gar keinen Fall!«, fiel Mathilde ihm ins Wort. »Was sind das für widerliche Geschäfte! Ein Leben für einen Trauschein?« Energisch schüttelte sie ihren Bubikopf. »Nein, ich mag keine Scharaden! Allein die Vorstellung ist so was von absurd, dass ich nur darüber lachen kann! Außerdem bin ich sicher, dass Bobby uns hier rausholt. Er hat uns schließlich schon bis hierher gebracht.«
    Sie setzte sich ihren Hut auf und öffnete die Tür.
    »Vielen Dank für Ihre Mühe, Mr. Jennings.«
    Der Vizekonsul holte tief Luft. »Ist das Ihr letztes Wort?«
    Mathilde nickte. »Ich bin mein ganzes Leben lang Optimistin gewesen, und ich lasse es nicht zu, dass die verfluchten Nazis auf meine alten Tage eine Pessimistin aus mir machen.« Sie warf Harry einen ungeduldigen Blick zu. »Worauf wartest du? Wenn du nicht bald kommst, schnappt uns noch jemand den Kuchen weg. Kannst du das verantworten?«
    »Natürlich nicht. Ich würde mir ewig Vorwürfe machen.«
    Zehn Minuten später saßen sie in dem Café, in dem ein Kanonenofen eine behagliche Wärme verbreitete. Das Lokal lag direkt am Hafen, und obwohl in fast allen Läden Eier, Zucker und Mehl rationiert waren, schmeckte die Torte besser als jede andere, die Harry je gegessen hatte. Lag es an dem Hunger, der ihn von morgens bis abends plagte? Oder lag es daran, dass sie früher in Köln jeden Sonntag zusammen in einem Café am Dom Kuchen gegessen hatten? Als er sah, wie sehr Mathilde die Torte genoss, kratzte er sein letztes Geld zusammen, und sie aßen beide zwei Stücke.
    Mit einem Kuss verabschiedeten sie sich voneinander.
    »Ich drücke dir die Daumen für das Visum.«
    »Um mich mach dir mal keine Sorgen, Harry. Pass du lieber auf dich selbst auf.«
    Als sie auseinandergingen, sah er ihr nach, bis sie mit ihrem Hut im Gewühl der Straße verschwunden war. Tapfere Mathilde. Egal, welchen Strich das Schicksal ihr durch die Rechnung macht e – nie ließ sie sich unterkriegen.
    Ein leichter Nieselregen fiel von dem grauen Winterhimmel. Mit einem Seufzer wandte Harry sich ab, um zur Bushaltestelle zu gehen. In der Villa wartete Debbie Jacobs, und er hatte versprochen, pünktlich zu sein.
    Er konnte ja nicht ahnen, dass er Mathilde an diesem Tag zum letzten Mal in seinem Leben gesehen hatte.
    6
    Frühling! Frühling in Bel-Air!
    Nach einem kalten, regnerischen Winter, den man in der kaum geheizten Villa nur in Mänteln und Pullovern hatte überleben können, wurden die Tage wieder länger und wärmer. Die Sonne spielte mit der Luft, und die Erde begann zu riechen. Eidechsen lugten aus ihren Verstecken hervor und huschten die Gartenmauern entlang. Zartes Grün legte sich

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