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Himmelsdiebe

Himmelsdiebe

Titel: Himmelsdiebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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über die Kronen der Bäume, die Fliederbüsche strotzten nur so vor Saft, und in den Hecken schäumten Wolken goldener Mimosen. Kaum senkte sich am Abend die Dämmerung über die Villa und den Park, fing irgendwo eine Nachtigall an zu singen, und am Teich quakten die Frösche. Überall paarte sich das Getier, in den Büschen, in den Beeten, in den Hecken, und während auf den Dächern die Katzen sehnsuchtsvoll miauten, war auf den dunklen Wegen im Schatten der Zypressen leises Liebesflüstern zu hören.
    Auch Debbie Jacobs konnte sich des Frühlings nicht erwehren; mit derselben Macht, mit der er sich in allen Pflanzen und Tieren regte, bemächtigte er sich ihrer Natur. Sie hatte sich in Harry Winter verliebt, mehr als sie sich selbst eingestehen wollte. Jedes Mal, wenn sie in seine blauen Augen sah, durchlief sie dieses wunderbare Kribbeln. Doch während sie den Frühling in jeder Faser ihres Leibes spürte, erwies Harry Winter sich als unendlich langweiliger als sein Ruf. Schon der erste Abend, den sie mit ihm verbracht hatte, war eine einzige Enttäuschung gewesen: Wenn er nicht von seinen Bildern gesprochen hatte, dann von seiner Geliebten oder seiner ersten Frau. Kein einziges Mal hatte er versucht, Debbie zu küssen.
    War der einzige Reiz, den sie auf ihn ausübte, die Aussicht, mit ihrer Hilfe aus Frankreich rauszukommen?
    Unter dem Vorwand, in Marseille kein geeignetes Hotel zu finden, war Debbie schließlich in die Villa eingezogen, in der Hoffnung, dass vielleicht nur mangelnde Gelegenheit Harry davon abhielt, sich ihr zu nähern. Hunderte von Männern hatten ihr schon den Hof gemacht, und Liebe war ein Wort, das sie in allen Sprachen der Welt durchdeklinieren konnte. Doch an diesem Deutschen prallten ihre Künste auf geradezu jämmerliche Weise ab. Vielleicht hätte sie ihn noch ein paar Monate länger zappeln lassen sollen! Denn abgesehen von der gläsernen Brosche sowie einem Paar sichelförmiger Ohrringe, die er für sie in dem riesigen Küchenherd emailliert hatte, war ihr kein Erfolg beschieden, der über das bloße Geschäft hinausging. Obwohl sie alle Anstrengungen unternahm, um ihm die Papiere zu besorgen, die er für seine Ausreise benötigte, blieb er kalt und unberührbar wie ein Fisch. Nicht mal das idiotische Wahrheitsspiel, mit dem die Bewohner der Villa sich Abend für Abend wie beim Kindergeburtstag vergnügten, hatte ihr geholfen. Als Pompon sie gefragt hatte, ob sie beim Liebesakt lieber die obere oder die untere Stellung einnehmen würde, hatte Harry Winter in einem Band Baudelaire geblättert, ohne seine Lektüre auch nur für einen Augenaufschlag zu unterbrechen.
    Debbie hatte darum gar keine Lust gehabt, als er sie aus Anlass seines fünfzigsten Geburtstags zu einem kleinen Fest im Kreis seiner Freunde eingeladen hatte, und es war nur Ausdruck ihrer grenzenlosen Höflichkeit, dass sie sich nun überwand, sich in das enge, dekolletierte Abendkleid zu zwängen, das sie sich kürzlich in Marseille gekauft hatte. Zu allem Überfluss fand die Party auch noch in seinem Zimmer statt, wo an der Wand für jedermann sichtbar der Grund seiner kalten Unberührbarkeit prangte: die Himmelsbeute – das Bild, das er zusammen mit Laura Paddington gemalt hatte.
    Gab es auf der Welt überhaupt eine Frau, die gegen ein solches Bild anlieben konnte?
    Es war das großartigste Bild, das Debbie jemals gesehen hatte: das ganze Drama Europas, als das Liebesdrama zweier Mensche n … Aber niemand außer Debbie schenkte dem Werk an diesem Abend Beachtung. Harrys Freunde waren vollauf damit beschäftigt, sich um eine Schüssel Pudding zu streiten, den Jeanette zu Harrys Ehren gekocht hatte. Die Milch stammte von einer sogenannten »geheimen« Kuh, die nicht von den Behörden registriert war, sodass man trotz der Rationierung, der inzwischen fast alle Lebensmittel unterlagen, die Milch direkt von dem Bauern kaufen konnte. Obwohl Debbie begriff, dass nach einem Winter, in dem es dreimal pro Woche Steckrüben gegeben hatte, der Hunger wahrscheinlich jeden Menschen in einen Banausen verwandeln konnte, vermochte sie nicht wirklich zu fassen, dass diese alberne Schüssel Pudding für alle anderen außer ihr im Raum offenbar von größerem Interesse war als das wunderbarste Werk der zeitgenössischen Kunst. Fast bedauerte sie, Harry eine Erstausgabe der Fleurs du Mal geschenkt zu haben. Mit einem Pfund Speck oder einem Sack Kartoffeln hätte sie unter den obwaltenden Umständen wahrscheinlich eher an sein Herz

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