Himmelsdiebe
Aufsicht von René Pompon, ihrem Hohepriester. Tränen rannen über Florences Gesicht und vermischten sich mit den Regentropfen auf ihrer Haut. Wie oft hatte sie zusammen mit ihnen gefeiert, jeden Einzelnen kannte si e – sie hatte ihnen aus der Hand gelesen, sie wusste ihre Geburtstage und die Namen ihrer Mätressen. Jahrelang war sie ihr strahlender Mittelpunkt gewesen, Pompon hatte sie als betörende Quelle der Inspiration und ihrer aller Muse gepriese n – keine Muse sei so »phantastisch« wie sie. Täglich hatte sie diese Männer mit ihren Einfällen verwirrt, und mit einem halben Dutzend hatte sie sogar geschlafen, um sie zu einem Gedicht oder Gemälde zu inspirieren. Doch niemand schien sie zu vermissen. Im Gegenteil. Jetzt thronte an ihrer Stelle, Seite an Seite mit Harry, dieses kleine englische Miststück und hielt Hof wie eine regierende Königin.
Plötzlich drehte Harry sich um und blickte über die Schulter, um einen Kellner zu sich zu rufen. Aus Angst, dass er sie sehen könnte, machte Florence einen Schritt zurück in die Dunkelheit. Lautlos, wie in einem Stummfilm, lachten und tranken die anderen jenseits der Fensterfront in dem taghellen Café. Während Harry dem Kellner ein Glas Wein abnahm, legte er seinen Arm um die Engländerin und küsste sie auf den Mund. Dabei traten ihm vor Lüsternheit fast die Augen aus dem Kopf. Florence wollte sich abwenden, doch sie konnte es nicht. Irgendetwas befahl ihr, auch diesen Schmerz auszukosten.
»Heilige Muttergottes, bitte für un s …«
2
Wie einen gespenstischen Schemen hatte Harry Florence hinter der regennassen Glasfront erkannt. Um Gottes wille n – wollte sie etwa hier hereinplatzen, um ihn zur Rede zu stellen? Ausgerechnet heute? Es gab nichts mehr zu bereden zwischen ihnen, das wusste Florence so gut wie er. Er liebte sie nicht mehr. Das war nicht seine Schuld, sondern die Schuld der Liebe.
Um Florence in die Flucht zu schlagen, hatte Harry vor ihren Augen Laura geküsst. Nervös zündete er sich eine Pfeife an. Er hatte seine sämtlichen Freunde eingeladen, um ihnen heute Abend die Windsbraut zu präsentieren, zur offiziellen Aufnahme in ihren Kreis. Laura sollte die neue Muse der Gruppe werden. Das war die einzige Chance, sein Gelübde zu halten, bevor Dada ihm über den Kopf wuchs, und er würde nicht zulassen, dass Florence ihr Debüt verdarb. Doch ob ein Kuss reichte, um sie davon abzuhalten?
Noch im Küssen hatte Laura sich ihm entzogen und war durch eine Tür in den Personaltrakt gehuscht. Was wollte sie da? Harry spähte vorsichtig aus dem Fenster, ob Florence verschwunden war. Ein Platzregen war ihm zu Hilfe gekommen und hatte sie in die Flucht geschlagen. Erleichtert wandte er sich wieder seinen Freunden zu und verlangte lautstark eine neue Runde.
Da ging ein Raunen durch den Saal.
»Ah, da ist sie ja!«
Eine Tür flog auf, und herein tanzte Laura. Sie war noch einmal verschwunden, um vor ihrem Auftritt zu dusche n – in ihrem Kleid! Die Spitzen und Fransen klebten nun an ihrem nassen schlanken Körper wie Algen am Leib einer schaumgeborenen Venus.
Im selben Moment waren alle Sorgen vergessen.
»Meine Herre n – die Windsbraut!«, rief Harry und erhob sich von seinem Platz. »Sie ist gezeugt aus lichtem Leben, aus ihrem eigenen Geheimnis, aus Poesie. Wie keine Zweite versteht sie sich auf die geheime Alchemie der Elemente. Sie stammt aus der Welt hinter den Spiegeln, unter ihren Händen verwandeln sich die Dinge in ihr Gegenteil. Zum Beweis hat sie für uns eine alchemistische Mahlzeit zubereitet, nach einem uralten englischen Rezept.« Mit einer Verbeugung drehte er sich zu Laura um. »Wenn wir vielleicht die Speisenfolge wissen dürften?«
Statt einer Antwort tauchte Laura ihren Zeigefinger in einen Senftopf und beschrieb damit den Spiegel an der Wand. Natürlich in Spiegelschrift.
»Vorspeise: Tintengefärbter Sago-Kaviar in Bananenbrühe«, übersetzte Harry für das staunende Publikum. »Erster Gang: Hase, mit Austern gefüll t … Zweiter Gang: Melone an kandierter Nachtigal l …«
Applaus brandete auf.
»Mir läuft schon das Wasser im Mund zusammen!«
»Und was gibt es zum Nachtisch?«
Harry bat mit erhobenen Armen um Ruhe.
»Die Windsbraut glaubt nicht an Gott, nur an den Rausch. Mit ihr werden wir niemals nüchtern sein! Nüchtern sein heißt, vor der Realität kapitulieren. Sie ist gekommen, um uns von dieser Angst zu befreien. Sie wird uns mit ihren Hirngespinsten füttern, damit die Quelle unserer
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