Himmelsdiebe
die beiden sich an. Wo war die wunderbare Leichtigkeit geblieben, die Laura eben noch verbreitet hatte? Harry hätte seine zwei Freunde ohrfeigen könne n – mit ihrer verfluchten Politik versauten sie ihm das ganze Fest. Er hatte für diesen Abend seinen letzten Sou ausgegeben, sämtliche Getränke gingen auf seine Rechnung! Jetzt fehlte nur noch, dass Pompon eine leere Flasche nahm, um sein geliebtes Wahrheitsspiel zu spielen.
»Hört auf zu streiten«, sagte Harry. »Was soll die Rechthaberei? Rechthaberei ist Gift für jede Revolution! Apropos«, fügte er hinzu und griff in die Innentasche seines Jacketts, »ich habe ein kleines Manifest geschriebe n – zum Thema Erektionsgefahr. Eine Abrechnung mit dem klerikalen Ungeziefer, das uns die Lust an der Liebe vergällen will. Wollt ihr mal hören?«
»Das interessiert jetzt nicht«, knurrte Pompon.
»Das interessiert immer !«, behauptete Harry.
»Unsinn«, widersprach Pierre.
Als Harry ihre Gesichter sah, ließ er sein Manuskript stecken. Auch wenn die beiden sich am liebsten an die Gurgel gesprungen wäre n – darin, dass der Spaß vorbei war, wenn die Politik anfing, waren sie sich offenbar einig.
»Die Bekämpfung des Totalitarismus ist eine ästhetische Notwendigkeit«, erklärte Pompon. »Stalinisten haben in den Reihen unserer Bewegung nichts verloren. Genauso wenig wie Faschisten.«
»Was soll das heißen?«
»Muss ich dir das wirklich erklären?«
Pierre wurde blass. »D u … du willst mich also exkommunizieren?«
»Auch wenn du mich für einen Diktator hältst«, erwiderte Pompon, »das maße ich mir nicht an. Nein, hier kann nur das Wahrheitsspiel entscheiden. Hat jemand eine leere Flasche?«
Alle rückten näher an den Tisch. Harry hatte es kommen sehe n – das Wahrheitsspiel erfreute sich im Café Flore größter Beliebtheit. Meistens ging es darum, die sexuellen Nöte der Teilnehmer bloßzulege n – eine Art öffentlicher Psychoanalyse, die Pompon mit schulmeisterlicher Pedanterie zelebrierte. Je peinlicher, desto aufregender! Dabei waren die Regeln so einfach wie beim Kindergeburtstag: Auf wen der Flaschenhals zeigte, der durfte an den jeweiligen Kandidaten eine Frage stellen. Die Antworten mussten strikt der Wahrheit entspreche n – wer bei einer Lüge erwischt wurde, musste zur Strafe eine Lokalrunde zahlen.
Heute war also Pierre dran. Schon wanderte eine leere Flasche in die Mitte des Tisches.
»Meine Herre n – die Suppe!«
Pompon wollte gerade die Flasche kreisen lassen, da betrat Laura den Saal, eine große dampfende Terrine vor sich her tragend. Sie war gekleidet wie eine Kellnerin: weiße Bluse, schwarzer Rock, weißes Häubchen auf dem schwarzen Lockenhaar.
»Die Suppe kann warten!«, herrschte Pompon sie an.
»Tut mir leid«, widersprach Laura. »Die Suppe besteht darauf, jetzt gegessen zu werden. Das hat sie mir selbst gesagt.«
»Haben Sie mich nicht verstanden? Wir haben hier gerade Wichtigere s …«
Pompon verstummte mitten im Satz. Als Laura die Terrine abstellte, entdeckte Harry den Grund. Ihm fiel fast die Pfeife aus dem Mund: Am Brustbesatz ihrer Bluse waren zwei Löcher ausgeschnitten, aus denen ihre nackten, mit brauner Schokoladenkuvertüre bestrichenen Brüste hervorschauten.
Es war, als hätte jemand in einem dunklen, muffigen Raum ein Fenster aufgestoßen, und herein flutete eine helle, freundliche Frühlingssonne. Endlich war wieder Leben im Lokal. Stalin und der spanische Bürgerkrieg waren vergessen, alle riefen und lachten durcheinander, und als Laura ihre Schöpfkelle in die Suppe tauchte, wurden ihr zwei Dutzend Teller gleichzeitig entgegengestreckt.
Sogar Pompons Betongesicht zerschmolz zu einem Lächeln.
»Was für eine reizende Verkleidung«, sagte er.
»Verkleidung?«, protestierte Laura. »Das ist meine Nachtischuniform. In der Nonnenschule habe ich gelernt, dass eine gute Hausfrau stets ihr eigenes Dessert sein sollte.«
»Es lebe die Nonnenschule!«, sagte Pompon und reichte ihr seinen Teller.
»Und wer darf sich auf den Nachtisch freuen?«
Obwohl Pierre es war, der die Frage gestellt hatte, suchte Laura mit ihren Augen Harry.
»Nur wer seinen Teller leer gegessen hat«, sagte sie und blies sich eine Locke aus der Stirn.
Bei dem Blick aus ihren schwarzen Augen erwachte Dada aus tiefstem Schlummer. Harry atmete durch. Doch Laura war schon wieder beschäftigt.
»Wie hieß die Suppe noch mal?«, wollte Pompon wissen.
»Bananenbrühe mit tintengefärbtem Sago-Kaviar«, erklärte
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