Himmelsdiebe
hatte er sie also versteckt! Ohne sich um die Briefe zu kümmern, schaltete Laura das Gerät ein. Zum allerersten Mal, seit sie in ihrem Zauberhaus lebten.
»Machst du jetzt vielleicht das Grammophon aus?«, fragte sie.
»Einen Teufel werde ich tun!«, erwiderte Harry.
Von einer Sekunde zur anderen verschloss sich seine Miene, und der Ausdruck seiner Augen wurde stechend hart. Doch Laura hielt seinem Blick stand. Würde dies ihr erster richtiger Streit? Harry gab bei diesem Auge-in-Auge-Spiel nie nac h – Laura wusste, dass er schon seine Mutter damit betrogen hatte. Doch sie war entschlossen, es darauf ankommen zu lassen. Wenn er sich einbildete, er könne mit ihr machen, was er wollte, hatte er sich geirrt! Aus den Augenwinkeln sah sie, wie die Röhre des alten Apparats phosphorgrün aufleuchtete. Ein Militärmarsch ertönte mit anschwellendem Tschingderassabum und vermischte sich mit den Klängen des Walzers zu einer fürchterlichen Katzenmusik.
Wie auf Kommando hielten sie sich beide die Ohren zu. Während Walzer und Marsch unbeirrbar gegeneinander anlärmten, standen sie da, mit vorgestreckten Köpfen und verkniffenen Mündern, die Hände an den Ohren, und starrten sich an. Wer würde als Erster zucken? Verzweifelt kämpfte Laura gegen ihr eigenes Grinsen an. Ihr Streit war so grotesk wie das Walzer-Marsch-Potpourri, das in ihre Gehörgänge plärrte! Trotzdem, sie würde nicht nachgeben, diesmal nicht, sie presste die Zähne zusammen, damit kein Zahn zwischen ihren Lippen hervorblitzte und sie verloren hätte.
»Mäh!«
Die Tür flog auf, und das Schaf kam in die Küche gehoppelt. Im selben Moment war es mit ihrer Beherrschung vorbei, und beide prusteten gleichzeitig los.
»Haben wir noch alle Tassen im Schrank?«, fragte Harry.
»Die Tassen vielleicht«, sagte Laura. »Aber um die Teller mache ich mir Sorgen.« Lachend stürzte sie sich auf ihn. »Du hast verloren!«, rief sie und trommelte mit den Fäusten gegen seine Brust. »Gib zu, dass du verloren hast! Ich hab nur gegrinst, ohne Zähne. Aber du hast als Erster gelacht!«
»Ist ja schon gut«, rief er. »Ich gestehe, ich habe verloren!« Plötzlich wieder ernst, griff er nach ihren Handgelenken und schaute sie an. »Meine Windsbrau t …«
Laura spürte, wie ihr wieder schwindlig wurde. Doch diesmal war es ein sehr angenehmes Gefühl.
»Will Dada mir vielleicht etwas sagen?«, flüsterte sie.
»Das kann ich auch selber«, erwiderte Harry, ebenso leise wie sie. »Ic h … lieb e … dich.« Ohne den Blick von ihr zu lassen, nahm er ihr Gesicht zwischen die Hände und gab ihr einen Kuss. »Gott sei Dank bist du so, wie du bist.«
Ihre Lippen hatten sich noch nicht voneinander gelöst, da brach die Marschmusik ab, und die Stimme eines Nachrichtensprechers ertönte.
»Achtung, Achtung!«, schepperte es aus dem Lautsprecher.
Laura starrte auf das Radio. Während im Hintergrund weiter der Walzer ertönte, glühte die Röhre in einem so intensiven Grün, wie sie es noch nie gesehen hatte.
»Wir unterbrechen unser Programm für eine Sondersendung«, verkündete der Sprecher. »In den Morgenstunden ist die deutsche Wehrmacht auf Befehl ihres Führers Adolf Hitler in Polen einmarschiert. Damit sind die Vereinbarungen des Münchener Abkommens außer Kraft gesetzt. Eine Stellungnahme der Regierung steht noch aus, aber Ministerpräsident Daladier hat für neun Uhr eine Pressekonferenz anberaumt, die wir mit Spannung erwarte n …«
14
Zwei Tage später, am 3 . September 1939, erklärte die französische Regierung Deutschland den Krieg. Zugleich wurden alle in Frankreich lebenden deutschen Staatsbürger aufgerufen, sich bei den Behörden zu melden. Die Präfekturen der Départements hatten ebenso wie die Bürgermeistereien der Städte und Gemeinden Anweisung erhalten, alle »feindlichen Ausländer« bis auf Weiteres in provisorisch einzurichtenden Internierungslagern unterzubringen.
»Oh, du bist noch nicht fort?«, fragte Lulu, als Harry am Sonntagmorgen mit Laura im Hôtel des Touristes aufkreuzte. »Hast du den Anschlag am Rathaus nicht gesehen?«
Aus dem Radio über dem Tresen ertönte die Marseillaise . Harry schaute sich nach einem Platz in der brechend vollen Kneipe um, wo die Kirchgänger nach der Messe ihren Frühschoppen tranken, doch an den Tischen war nichts mehr frei.
»Natürlich habe ich den Anschlag gesehen«, sagte er mit einem Schulterzucken. »Doch was geht mich das an? Ich bin kein ›feindlicher Ausländer‹.«
»Nicht?«,
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