Himmelsdiebe
Ausnahmezustand verhäng t …«
16
Während Militärmusik aus dem Lautsprecher schepperte, starrte Laura auf das Radio, dessen Röhre wie Phosphor glüht e – ein Lindwurm aus einer fremden, bösen Welt. Warum hatte sie nur den verfluchten Kasten eingeschaltet? Harry hatte sie immer davor gewarnt! Doch sie hatte nicht auf ihn gehört, und jetzt waren die bösen Geister in ihr Zauberhaus eingedrungen. Sie riss den Stecker aus der Dose, nahm den Apparat und warf ihn durch das Fenster hinaus auf den Misthaufen.
Zehn Minuten später klopfte sie an die Kanzleitür von Maître Simon.
»Herein!«
Als sie den Raum betrat, schlüpfte eine Frau, die geschminkt war wie eine Pariserin, an ihr vorbei auf den Flur. Jeder im Dorf kannte sie, Mademoiselle Lautrec, eine Schauspielerin aus Toulouse, die einmal im Monat Maître Simon besuchte.
Der stand vor einem Spiegel und band seine Fliege. »Haben Sie es schon gehört?«, fragte er über die Schulter. »Das hat uns gerade noch gefehlt! Dabei hatte es ganz so ausgesehen, als hätte Monsieur Hitler in Polen genug zu tun. Aber bitte, nehmen Sie Platz.«
»Ich will nur eines wissen«, erwiderte Laura, ohne sich zu setzen. »Was passiert jetzt mit Harry? Bringen sie die Gefangenen um?«
»Wo denken Sie hin? Wir sind hier nicht in Deutschland!«
»Wir müssen sofort nach Les Milles!«
»Ohne Besuchserlaubnis? Was versprechen Sie sich davon?«
»Die Regierung hat die Freilassung meines Mannes verfügt. Ich kann es beweisen.« Sie zog das Telegramm aus ihrer Handtasche und reichte es dem Notar.
»Ich weiß, ich weiß«, erwiderte er. »Und seien Sie versichert, auch die Lagerleitung ist längst im Bilde.«
»Aber Harry ist immer noch nicht da. Wir müssen den Kommandanten zwingen, dem Befehl der Regierung zu gehorchen.«
»Nehmen Sie Vernunft an, Mademoiselle Paddington. Sie sind die Geliebte eines Deutschen. Ich glaube kaum, dass man Sie zum Kommandanten eines Internierungslagers vorlässt.« Er dachte kurz nach. »Nein, wenn die Sache einen Sinn haben soll, dann nur, wenn ich allein mit ihm spreche, als Ihr Rechtsvertreter.«
»Warum zum Teufel sind Sie dann noch hier?«
Maître Simon zögerte. Laura verstand. In dem Raum hing noch das Parfüm von Mademoiselle Lautrec.
»Geht es um Geld?«, fragte sie. »Sie haben gesagt, Sie wollen heiraten.«
Der Notar wandte sich wieder seinem Spiegelbild zu. »Nun ja, ich würde Ihnen den Gefallen gern umsonst tun«, sagte er, während er mit dem Taschentuch eine Lippenstiftspur von seiner Wange entfernte. »Aber solche Dinge sind mit Kosten verbunden. Man muss Eingaben machen, eventuell auch ein paar diskrete Geschenke verteilen.«
»Um was für eine Summe handelt es sich?«
»Sagen wi r – fünfhundert Franc?«
»Um Gottes willen! So viel?«
»Ich weiß, das ist kein Pappenstiel.« Maître Simon steckte sein Taschentuch ein. »Gibt es denn niemanden, der Ihnen unter die Arme greifen kann? Vielleicht Ihre Eltern?«
»Ic h … ich könnte meiner Mutter schreiben. Abe r …«
Mitten im Satz verstummte sie. Erst jetzt registrierte sie den Strauß Tulpen auf dem Schreibtisch. Die Blumen waren voll erblüht, manche ließen schon die Köpfe hängen, und aus den Stängeln quoll unaufhörlich Blut in das Wasser der Kristallvase.
»Aber was?«, fragte der Notar.
»Bis das Geld aus London hier ist«, erwiderte Laura, »ist Harry längst tot.«
17
Sieben geschlagene Stunden hatte Harry in der Schlange vor der Kommandantur gewartet. Als er endlich an die Reihe kam, saß der Kommandant bereits beim Abendessen.
»Sie müssen mich sofort entlassen! Am besten noch heute!«
Colonel Jospin, ein eleganter Herr mit angegrauten Haaren, Historiker und Gymnasialdirektor im zivilen Leben, nahm in aller Ruhe einen Bissen von dem Beefsteak, das man ihm auf dem Schreibtisch serviert hatte, bevor er sich dazu bequemte, zu Harry aufzuschauen.
»Und was veranlasst Sie zu dieser Ihrer Meinung?«, fragte er und spülte mit einem Schluck Rotwein nach. »Soweit ich informiert bin, steht Ihre Entlassung erst in drei Wochen an.«
»Die Deutschen haben Frankreich überfallen«, rief Harry. »Wenn die Nazis mich erwischen, bin ich geliefert! Ich bin ein entarteter Künstler, und meine erste Frau ist Jüdin!«
»Ihre Sicherheit lassen Sie mal unsere Sorge sein«, erwiderte Colonel Jospin. »Oder wollen Sie die französische Armee beleidigen? Wenn ich Sie daran erinnern dar f – Deutschland gab es noch gar nicht, da hatte Napoleon schon ganz Europa
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