Himmelsdiebe
exerzieren. Während sie zwischen den Gräben und Erdhaufen wie aufgescheuchte Hühner hin und her liefen, wurden rings um das Lager alte, verrostete Maschinengewehre aus dem Ersten Krieg in Stellung gebracht. Die Nazis im Hof feixten vor Vergnügen.
»Wir sitzen in der Falle, Colonel Jospin.« Zusammen mit Professor Hirngiebel hatte Harry den Auftrag bekommen, im Namen der Gefangenen mit dem Kommandanten zu sprechen. »Sie müssen das Lager auflösen.«
»Dazu besteht keine Veranlassung«, erwiderte der Offizier mit müdem Gesicht. »Wir haben alles unter Kontrolle.«
»Das würde ich niemals bezweifeln. Aber unter den Häftlingen sind Männer, die von deutschen Gerichten verurteilt worden sind.«
»So, Sie haben Verbrecher in Ihren Reihen?«
»Sie wissen genau, was ich meine. Die Männer haben Kopf und Kragen riskiert, um aus Deutschland zu fliehen. Dutzende waren schon im KZ . Manche stehen auf Todeslisten, bloß weil sie Gewerkschaftler waren oder wagten, Adolf Hitler zu kritisieren. Wenn die Nazis das Lager übernehmen, sind sie verloren.«
»Und bitte«, fügte Erich Hirngiebel hinzu, »denken Sie an die Juden. Es sind immer noch welche im Lager. Sie reden offen von Selbstmord. Lieber wollen sie sich umbringen, als noch einmal Deutschen in die Hände zu fallen. Ein Apotheker verteilt bereits Giftkapseln.«
»Das alles ist mir bekannt«, erwiderte Colonel Jospin. »Und natürlich habe ich für den Fall ernsthafter Gefahr bereits Vorsorge getroffen. Die letzten Juden werden bis Ende der Woche entlassen. Sagen Sie das Ihren Kameraden.«
»Ich glaube kaum, dass sie das beruhigen wird.«
»Aber was zum Himmel soll ich denn tun?«
Harry zögerte einen Moment, bevor er die Forderung aussprach, die ihm aufgetragen worden war: »Lassen Sie alle Gefangenen außer Landes bringen. Noch diese Woche!«
Colonel Jospin sprang von seinem Schreibtisch auf. »Wie stellen Sie sich das vor? Im Lager sind inzwischen dreitausend Mann! Woher soll ich die Züge nehmen?«
»Dann geben Sie uns unsere Papiere und unser Geld zurück. Damit wir uns zu Fuß bis zur spanischen Grenze durchschlagen können.«
»Ausgeschlossen, auf gar keinen Fall. Wenn ich das tue, geht mir das halbe Lager durch.« Der Kommandant schüttelte den Kopf. »Das würde gerade noch fehle n – Tausende hungriger Männer, die die Gegend unsicher machen. Als hätten wir nicht schon genug Sorgen am Hals.« Er war so erregt, dass es ihn nicht mehr an seinem Platz hielt. »Haben Sie sich eigentlich mal gefragt«, sagte er, während er ans Fenster trat und auf den Hof hinausschaute, »wer uns den ganzen Schlamassel eingebrockt hat? Das waren keine Franzosen, das waren Ihre Politiker und Soldaten, meine Herren!«
»Im Namen Gottes, ich flehe Sie an«, rief Erich Hirngiebel. »Wenn Sie uns nicht laufen lassen, wird es ein Blutbad geben!«
Colonel Jospin drehte sich um. »Was verlangen Sie von mir? Dass ich meinen eigenen Landsleuten den Feind auf den Hals hetze? Sie sagen es ja selber: Unter den Gefangenen sind nicht nur Emigranten und Widerstandskämpfer, viele sind eingefleischte Nazis. Sie würden sich sofort den deutschen Truppen anschließen. Sie laufen zu lassen wäre Sabotage. Darauf steht die Todesstrafe!«
Harry schaute Erich Hirngiebel Hilfe suchend an. Doch der Professor war genauso ratlos wie er.
»Sehen Sie, dafür haben Sie auch keine Lösung«, sagte der Kommandant. »Nun, meine Herren, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort als Offizier, dass ich alles tun werde, um Sie zu retten. Wenn die Deutschen wirklich kommen, werden Sie rechtzeitig abtransportiert.«
»Aber wenn die Deutschen da sind, ist es zu spät!«, erwiderte Erich Hirngiebel.
»Tut mir leid, mir sind die Hände gebunden. Mehr kann ich nicht für Sie tun.« Colonel Jospin kehrte an seinen Schreibtisch zurück und nahm einen Aktenordner in die Hand.
Harry begriff, dass das Gespräch beendet war, und wandte sich zur Tür. Draußen auf dem Hof hatte Alois Waluschek seine Nazi-Freunde um sich geschart. Obwohl für die Gefangenen Alkoholverbot herrschte, köpfte er vor den Augen zweier Wachtposten eine Flasche Champagner und verteilte großzügig Gläser. Zu seinen Kumpanen gehörten inzwischen auch Wilfried Kümmerich und Stenz Weigand. Der Metzgermeister hatte sogar sein Parteiabzeichen hervorgekramt und trug es offen am Revers.
Plötzlich kam Harry eine Idee. »Vielleicht gibt es doch eine Lösung«, sagte er.
Der Kommandant schaute mit gerunzelter Stirn von seinem Schreibtisch
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