Himmelsdiebe
Schon als Kind war es seine Lieblingsbeschäftigung gewesen, in verschwimmenden Formen irgendwelche Strukturen zu erkennen. Jetzt sah er Lauras Gesicht in dem grauen, wässrigen Speis. Sie blies sich eine Strähne aus der Stirn und grinste ihn an, als wollte sie sich über ihn lustig machen. Ihr Anblick erfüllte ihn mit solcher Sehnsucht, dass es wehtat. Wo war sie? Was machte sie gerade? Vermisste sie ihn genauso, wie er sie vermisste? Manchmal musste er nachts Hand an sich legen, um nicht verrückt zu werden. Trotz des Broms, das die Franzosen ihnen ins Essen gaben.
»Ja, Jude müsste man sein«, sagte Waluschek. »Ich habe gehört, die sollen alle noch in dieser Woche entlassen werden. Ein sicheres Zeichen, dass es bald so weit ist.«
Harry biss sich auf die Lippen. Konnte der Mistkerl Gedanken lesen? Jedes Mal, wenn ein Jude entlassen wurde, dachte Harry voller Neid an Carl Altstrass. Er und Mathilde waren vielleicht schon in Amerika. Warum Carl Altstrass? Warum nicht Harry Winter? Obwohl seine eigenen Gedanken ihm zuwider waren, konnte Harry sie nicht unterdrücken. Wahrscheinlich hatte Mathilde recht, manchmal war er ein ziemliches Arschloch.
»Ha… hatschi!« In einer gewaltigen Explosion detonierte seine Nase.
»Ja, so ein Künstler hat eine sensible Natur«, sagte Alois Waluschek. »Wittern wir allmählich die Gefahr?«
»Nur eine Allergie. Gegen Wiener Dialekt.«
»Die Witze werden Ihnen bald vergehen, mein Lieber. Genauso wie die Lust am Wichsen. Oder meinen Sie, ich hätte Sie gestern nicht stöhnen gehört?«
Harry wollte etwas erwider n – aber war der Mistkerl einen Streit wert? Um keine Antwort geben zu müssen, stellte er seine Schaufel ab und putzte sich die Nase.
Plötzlich hörte er ein leises, gefährliches Dröhnen.
»Scheiße! Sie kommen!«, schrie Erich Hirngiebel.
Noch bevor die Sirene ging, sah Harry die Maschinen am Himmel. Wie ein Schwarm gigantischer Mücken, die mit jeder Sekunde größer und größer wurden, brummten sie von Norden heran. Während die Sirene aufheulte, spürte Harry, wie die Angst kam. Zwanzig Jahre war es her, dass er zum letzten Mal einen Fliegerangriff erlebt hatte. Doch die Angst war immer noch dieselbe. Ganz langsam kroch sie vom Rücken in den Nacken.
»Alle Mann weg hier! Los, vorwärts! Marsch, marsch!«
Die Gefangenen warfen ihre Hacken und Schaufeln fort. Doch statt in die Unterstände trieben die Soldaten sie zurück ins Haus. Offenbar hatten die Franzosen selber kein Vertrauen in ihre Luftschutzgräben. Eilig wurden die Tore verrammelt, und auch die Fenster mussten verdunkelt werden wie in der Nacht.
Harry hatte kaum seine Unterkunft erreicht, da fiel die erste Bombe. Die Angst schoss ihm vom Nacken in die Adern, um sich wie flüssiges Blei in seinem Körper auszubreiten. Wieder das Dröhnen der Motoren, das immer näher kam, und wieder eine Explosion. In wortloser, drückender Spannung harrten die Männer auf ihren Strohlagern aus. Eingeschlossen in der Dunkelheit, zogen sie bei jedem Einschlag die Köpfe ein. Ein paar Gefangene, die schon den Ersten Krieg mitgemacht hatten, versuchten anhand der Geräusche abzuschätzen, in welcher Entfernung die Bomben einschlugen. Harry schloss die Augen und spürte das Pochen seines Herzens. Die Einschläge waren so nahe, dass die Mauern des Gebäudes wackelten und der Kalk von der Decke rieselte. Wieder sah er Laura. Das Lächeln war aus ihrem Gesicht verschwunden, sie sah aus wie eine trauernde Witwe. Panik überfiel ihn. Sollte er hier verrecken? In einer stillgelegten französischen Ziegelei? Im Bombenhagel eines deutschen Luftangriffs? Er krallte seine Hände ins Stroh, um das Zittern zu unterdrücken, das ihn am ganzen Leib erfasste. Bei seinem ersten Luftangriff als junger Soldat hatte er sich in die Hose geschissen. Hoffentlich passierte ihm das nicht wieder.
Als seine Angst sich etwas legte, verließ er sein Lager. In geduckter Haltung, wie er es vor einem halben Menschenleben gelernt hatte, kroch er zum Fenster. Durch eine Ritze der Verdunkelung lugte er hinaus.
»Was ist?«, flüsterte Wilfried Kümmerich. »Können Sie etwas erkennen?«
Leer und ausgestorben lag der Hof in der Mittagssonne. Nur ein paar Katzen spielten im Staub. Darüber, am tiefblauen Himmel, flogen Dutzende von Messerschmitts hinweg. Aus dem Schornstein der Küchenbaracke stieg eine einsame Rauchsäule empor. Harry wusste, er und seine Kameraden waren ihrem Schicksal vollkommen schutzlos preisgegeben.
»Wahrscheinlich
Weitere Kostenlose Bücher