Himmelsdiebe
vor sich selbst versteckt hielt. Die Collage war inzwischen zu solcher Größe angewachsen, dass sie sämtliche Möbel beiseiteräumen musste, um sie auf dem Boden auszurollen. Während sie die Leinwand ausbreitete, kehrte die Magie in das Atelier zurück. Dunkle Wälder wuchsen aus den gezackten Rissen des Steinbodens hervor, Blätter und Bäume und Farne, die bevölkert waren von Kobolden und Rieseninsekten, über die schwarze Nachtigallen wachten, während Pferde mit wehenden Mähnen durch die Lüfte galoppierte n …
Geraldine gingen die Augen über. »Was… was ist das?«
»Das haben wir zusammen gemalt. Harry und ich. Unser Liebestagebuch.«
»Das ist ja großartig! Wie heißt es?«
Laura beantwortete die Frage nicht. »Ich habe Harry so viel zu verdanken«, sagte sie nur. »Alles hat er mir beigebracht. Sehen und Malen und Leben.«
Geraldine zeigte auf ein Pferd mit Lauras Gesicht, das einer nebeldurchwaberten Fjordlandschaft entstieg.
»Das gefällt mir am besten. Meine Freundin als ein Schaukelpferd, das sich in ein Wildpferd verwandelt.«
»Das hat Harry noch in London gemacht«, sagte Laura. »Am selben Tag, an dem ich beschlossen hatte, mit ihm nach Paris zu gehen.« Sie zögerte einen Moment, bevor sie weitersprach. »Verstehst du mich jetzt? Ich kann das unmöglich zurücklassen. Es ist alles, was ich habe, mein ganzes Leben. Und dein Auto ist viel zu klein, um die Leinwand mitzunehmen.«
»Ich wusste ja gar nicht, dass du auch praktisch denken kannst. Ich dachte, hier geht es um die große Liebe?« Als Geraldine ihr Gesicht sah, nahm sie Laura in den Arm. »Entschuldige, ich wollte dir nicht wehtun. Wahrscheinlich habe ich das nur gesagt, weil ich dich so sehr beneide.« Sie gab ihr einen Kuss. »Pass auf, ich habe eine Idee. Harry soll selber entscheiden, was aus euch wird.«
»Wie meinst du das?«
»Ganz einfach«, sagte Geraldine. »Wenn er dich liebt und zurückkommt, wird er sich um das Bild kümmern. Er wird es an einen sicheren Ort bringen, und er wird daran weiterarbeiten, bis ihr wieder zusammen seid. Garantiert.«
Laura sah ihre Freundin unsicher an. »Und wenn nicht?«
Geraldine hielt ihrem Blick stand. »Dann ist euer Bild wertlos. Genauso wie seine Liebe.«
Laura kehrte ihr den Rücken zu. Geraldines Vorschlag war ebenso vernünftig wie einfühlsam, und es gab nichts, was dagegen sprac h – vermutlich würde ihre Idee sogar Harry gefallen.
Aber warum zum Teufel sagte er nichts?
Mit eisblauen Augen schaute er auf sie herab. Düster und reglos war sein Gesicht. Er schien so fern von ihr in seiner Eiswüste, wie für immer erstarrt in der klirrenden Kälte, die ihn umgab.
Schlug unter seinem roten Gewand überhaupt noch ein Herz, das sie vermisste?
Mit einem Ruck wandte Laura sich wieder ihrer Freundin zu.
»Geh ins Dorf und sag Lulu Bescheid. Maître Simon soll alles vorbereiten.«
25
Die ganze Nacht verbrachte Laura mit Packen. Sie durfte nur einen Koffer mitnehmen, mehr Platz gab es nicht in dem kleinen Fiat ihrer Freundin. Während sie ihre Habseligkeiten sichtete, um zu entscheiden, was sie unbedingt brauchte und was sie zurücklassen konnte, vergoren in ihrem Magen Geraldines Warnungen zu einem schwarzen, zähen Angstbrei, und sie musste sich mehrmals übergeben, ohne dass sie auch nur einen Schluck von ihrem Tee trank.
Warum hatte sie Geraldine nichts von ihrer Schwangerschaft gesagt?
Zwischen Unterwäsche und Socken fand Laura Harrys Pass. Auf der Fotografie war er so jung wie sie selbst. Als wolle er ihr Mut machen, lächelte er ihr zu. Beim Anblick dieses Lächelns überkam sie wieder das seltsame Gefühl von Allmacht, mit dem sie die französischen Soldaten zum Schrumpfen gebracht hatte, und für einen Moment wurde ihr fast schwindlig vor Glück. Eilig, bevor Geraldine es sehen konnte, steckte sie den Pass zu ihren eigenen Papieren. Auf diese Weise würde Harry immer bei ihr sein, und wenn der Mut sie unterwegs irgendwann verließ, brauchte sie nur die Fotografie anzuschauen, um neue Kraft zu schöpfen. Außerdem konnte sie den Pass in Madrid visieren lassen. Wer weiß, vielleicht würden Harry und sie, wenn sie erst wieder zusammen waren, ja gar nicht in Europa bleiben, sondern noch viel weiter fliehen, nach Afrika oder Indien oder Australie n …
»Hallo? Dürfen wir reinkommen?«
Die Glocken der Dorfkirche läuteten gerade zur zweiten Morgenmesse, als Lulu vom Stall heraufrief. Laura klappte ihren Koffer zu und ging hinunter in die Küche. Maître Simon
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